Ralf Rothmann: Milch und Kohle

Rußige Heimat

(Ralf Rothmann: Milch und Kohle, Roman, Suhrkamp-TB, Frankfurt/Main 2002, 211 Seiten, € 10,-)
Irritation als Gestaltungsprinzip. Das fängt damit an, daß der Autor schon in der ersten Zeile das heute so modische wie alberne Universalurteil bringt: Nicht wirklich. Und das setzt sich mit der Masche fort, jede Szene damit einzuleiten, daß man die Einleitung wegläßt, nicht einmal die Kürzestangabe zur Situation bietet, wie sie im Drehbuch stehen würde. Action an wechselnden Schauplätzen und Dialoge verschiedener Figuren im harten Schnitt gegeneinandergesetzt. Schon nicht mehr verwunderlich, daß Rahmenhandlung und Erinnertes sich nicht im Tempus unterscheiden. Auch nicht, daß die Icherzählung zunächst den Charakter einer Autobiographie annimmt, dann aber deutlich wird, der Titel bezieht sich auf den Vater des Erzählers, bis man am Ende weiß, es handelt sich um das Porträt einer Frau, nämlich der Mutter des Icherzählers. Dann bekommt man noch einen Epilog zu lesen, der nichts mit dem Erzählten zu tun hat und bei dem man meinen könnte, er sei entweder aus Versehen ins falsche Buch geraten oder als verzweifelter Versuch, einer zu kurz geratenen Erzählung doch noch den für einen Roman nötigen Umfang zu verpassen, – wenn es nicht einfach nur um Renommage geht. Natürlich ist die Absicht eine hehrere: Der nur am Ende des Buches kurz erwähnten Tatsache der Karriere des Icherzählers in den USA soll mit dieser Schilderung eines Besuchs in einem japanischen Kloster das Sahnehäubchen des Zen-Buddhismus aufgesetzt werden.

Wie auch immer, jedenfalls überdeutlich bemühte Andersartigkeit, zuviel Koketterie. Dabei hätte diese Erzählung das nicht nötig. Bringt der im Ruhrgebiet aufgewachsene Erzähler doch ein anschauliches und überzeugendes Bild vom Leben und Treiben der Kleinen Leute im Revier in der Zeit der aufblühenden Bundesrepublik. Von ihrem verständnisvollen Zusammenhalten, von proletarischer Libertinage und von der herrschenden Brutalität. Ausgemalt im Bild der Frau eines Kumpels, die voller Lebensgier ist. Der noch so viel Rauchen und Trinken und Tanzen nicht genügen. Die mit dem italienischen Kollegen ihres Mannes ins Bett geht. Und die den Problemen ihrer beiden pubertierenden Söhne so hilflos gegenübersteht wie der Invalidität und dem frühen Tod ihres Mannes und schließlich ihrer eigenen Krebserkrankung. Eine im bürgerlichen Spektrum schon fast als verkommenes Subjekt geltende Menschin, die dem Leser unweigerlich ans Herz wächst. Die ihm damit seine eigenen Normen fragwürdig erscheinen läßt. So daß er ihr die letzte Packung Zigaretten gönnt, die der Sohn ihr mit ins Grab gibt.
Das ist in einer packenden und glaubhaften Weise dargestellt. In präzisen Situationsbildern und knappen, niemals übertrieben veristischen Dialogen. Dem Buchtitel zum Trotz keine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Ein Höhepunkt der Schilderung ist zweifellos das von zwei italienischen Gastarbeitern in der Wohnung der Protagonisten bereitete Festessen. Im übrigen arbeitet der Autor gern und sehr geschickt mit Verschwiegenem. Er läßt das Geschehen immer wieder eskalieren, ohne das Ergebnis dann mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Ein Verzicht auf Effekte, der dem Buch doch nichts an Intensität nimmt. Im Gegenteil. Der so erzeugte Schwebezustand trägt die Spannung, weil er eine Deutungsvielfalt erhält.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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