933. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Beschlossen und verkündet: Das Anthropozän, übersetzt das Menschenzeitalter, wird es nicht als neuen Abschnitt in der Einteilung der Erdgeschichte geben. Für die einen greift die Bezeichnung mit dem Beginn in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht weit genug zurück, weil die Beeinflussung der Erdgeschichte durch den Menschen schon Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Aufklärung und Industrialisierung begann. Für die anderen geht es zu weit, den Menschen für alle schlechten Entwicklungen verantwortlich zu machen. Man könnte das Ergebnis des Streits so zusammenfassen: Sowohl die Übertreibung als auch die Untertreibung wurde abgelehnt, die Erde dreht sich unbekümmert weiter.

 

Vater Staat, der uns in der Kindheit schon der allgemeinen Schulpflicht unterworfen hat, erzieht uns lebenslang weiter, nämlich mittels der permanenten Gehirnwäsche, meistens unterhaltsam gebracht, und das gegen eine obligatorische Fernsehgebühr.

 

Jetzt haben unsere Politiker sich doch tatsächlich dazu durchgerungen, den Anbau und Genuss von Cannabis in kleinen Mengen zu erlauben. In meinem Sachbuch „Rauschgift, der stille Aufstand“ (Leske-Verlag, Opladen 1971), einem Überblick über die gebräuchlichsten Rauschgifte und das Problem ihrer Kriminalisierung, hatte ich darauf hingewiesen, dass Cannabis eigentlich nicht auf die Liste der Rauschgifte gehört und dass weit gefährlichere Gifte wie Alkohol im freien Handel sind. Die Regierung hat endlich reagiert, wenigstens teilweise. Und ich weiß nun, was man unter langer Leitung versteht.

 

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Die Texter des Grundgesetzes, weitgehend christlich geprägt, haben bei dieser Gleichstellung von Ehe und Familie unsere geistige Weiterentwicklung übersehen, sogar Goethes Wahlverwandtschaften. Ist die Familie doch schon von unseren Vorfahren als ein Schwundobjekt gesehen worden, wie im Nibelungenlied gleich zweimal geschildert wird. Kriemhild entscheidet sich für die Liebe zu ihrem ermordeten Ehemann Siegfried und gegen die traditionelle Bindung an die Familie, als sie ihre beiden Brüder, die sich bei dem Mord mitschuldig gemacht haben, umbringen lässt. Und der Markgraf Rüdiger von Bechelaren entscheidet sich im Endkampf der Hunnen gegen die Nibelungen, zu denen er blutsmäßig gehört, gegen seine Familie und für den fremden Hunnenkönig Etzel, weil der sein Lehnsherr ist; womit schon die von den Arbeitgebern so gern beschworene moderne Betriebsfamilie vorgezeichnet wurde – inzwischen ebenfalls ein Schwundobjekt.

 

Ein Volkstanz-Abend in Dalvik, nahe am Nördlichen Polarkreis. Ein gutes Dutzend an Einwohnerpaaren voller Vorfreude im neuen Kulturhaus des Städtchens. Jedes Paar hat weit mehr als hundert Jahre unter den Sohlen. Die Frauen sämtlich nett aufgemacht, die Männer im Sonntagsanzug oder Pullover oder bunt karierten Hemd, mit aufgekrempelten Ärmeln und Hosenträgern. Manche Melodie, die der alte Musiker mit seinem Akkordeon spielt, kenne ich. Die gerade jetzt reizt mich, den deutschen Text mitzusingen: „Hoch droben singt jubelnd der Engelein Chor.“ Dabei feiert man an diesem letzten März-Wochenende das nahende Ende des Winters. Eine junge Frau in Tracht macht die Tanzmeisterin, und alle machen brav mit, Schrittchen für Schrittchen, auch der Herr Professor und die Frau Bürgermeisterin. Und der Gast aus Deutschland. Nur die beiden jungen Mädchen, die halb versteckt hinter der offen stehenden Tür geblieben sind, gucken befremdet und ziehen dann ab, mit Hohlkreuz. Draußen schneit es.

 

Habe mir zum Osterfest was Besonderes gegönnt, nämlich stundenlanges Lesen in meinem Roman des Mittelalters „Ritter, Tod und Teufel“, der 1992 im Münchener Verlag Langen Müller erschienen ist. Damit war ich einer der Neuentdecker des historischen Romans, neben Autoren wie Umberto Eco: „Der Name der Rose“ (1980), Ken Follett: „Die Säulen der Erde“ (1992) und Tanja Kinkel: „Die Puppenspieler“ (1995). Mein 400-Seiten-Buch entführt in die Tiefburg von Heidelberg-Handschuhsheim, rund 600 Jahre vor unserer Zeit. Mit immer wieder überraschenden Bemerkungen, die den Bezug zur Gegenwart herstellen. Womit ich als Leser ein spannendes Doppelleben führte. Das gebundene Buch ist schon lange ausverkauft, genauso vergriffen die beiden 1995 und 1997 erschienenen Taschenbuchausgaben. Aber im antiquarischen Handel ist dieser Mittelalter-Klassiker immer wieder zu finden.
https://www.netzine.de/book/ritter-tod-und-teufel/?grid_referrer=4078

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