Philip Roth: Der menschliche Makel

Schluß mit dem Jüngsten Gericht!

(Philip Roth: Der menschliche Makel, Roman, aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003, 400 Seiten, 9.90 €)

Nein, ich werde nicht vollmundig große Sprüche machen, die als Werbeslogans eingesetzt werden können. Dafür besteht ohnehin kein Bedarf mehr. Das Buch hat sich längst auf dem Buchmarkt durchgesetzt. Und ich werde auch nicht den Plot nachplappern und damit den Literaturinteressierten mit wenig Zeit oder Geduld die Lektüre dieses Romans ersparen. Damit würde ich einen Raub begehen. Statt dessen dieses:

Erst auf Seite 271 wird klar, daß es sich bei dem Titel um einen sprachlichen Fehlgriff handelt, und das sowohl in der Übersetzung als auch bei dem Originaltitel „The Human Stain“. Denn nicht von dem erwarteten arttypischen Makel des Menschen ist die Rede, sondern von dem Makel, den der Mensch der übrigen Natur bei jeder Berührung mit ihr aufdrückt. Sicherlich eine absichtliche Unsauberkeit des Ausdrucks, weil sie es fertigbringt, den Menschen als ein bloßes Stück Natur zu deklarieren.

Damit hat der Autor das Terrain vorbereitet für die Schilderung von Schicksalen in einer so drastisch elementaren Art, wie sie kein Spiegel zeigen kann. Da ist alles Äußerliche an den Personen der Handlung, obwohl haargenau notiert, nur Beiwerk, wenn nicht Camouflage. Der Mensch, dieses Tier mit der hypertrophen Hirnentwicklung, ist so bedrohlich, wie ein schweres Gewitter, so unberechenbar, wie die Eruptivkraft der Erde, so falsch, wie die Mondsichel. Und ob sich die Natur von der Berührung durch den Menschen zu reinigen vermag, wie es der Bergsee mit den mehreren Zuflüssen kann, „dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird“, wie es im letzten Satz des Buches heißt, das ist die Frage, die offenbleibt.

Der Roman über einen hochverdienten ehemaligen Professor an einer kleineren, aber noblen amerikanischen Ostküsten-Universität, der sich mit seinen 71 Jahren einer vierunddreißigjährigen Putzfrau hingibt, ist die Comédie humaine Amerikas. Und mehr als das. Er ist unser aller Entlarvung. Ob man sich dabei mehr in einer der beiden Hauptpersonen oder in dem Ich-Erzähler oder in einer der zahlreichen Gegen- und Nebenfiguren dargestellt sieht, ist mehr als eine Geschmacksache. Da wird deutlich, wieviel Anteil der Zufall am jeweiligen Schicksal hat, wieviel Anteil auch die Hautfarbe und das Milieu, aus dem man stammt, die Ausbildung und die Tätigkeit, die Erwartungshaltung der Nachbarn und Kollegen und so weiter. Dieser Gedanke – zu Ende gedacht – ist die Aufhebung der Verantwortlichkeit und der Schuldfähigkeit des Menschen. „Der menschliche Makel“ geht nur bis zur Beerdigung und läßt das „Jüngste Gericht“ ins Leere laufen. Weil ein Makel, der nicht abwaschbar ist, sich nicht pönen läßt.

Ein Lesegenuß, der nur in Superlativen zu beschreiben wäre. Im einzelnen könnten hier Textpartien angeführt werden, die einfach grandios sind. So die innere Raserei des Vietnamveteranen, der durch die Kriegserlebnisse so versaut ist, daß er nicht mehr in den zivilisierten Alltag zurückfinden kann. Oder das zähe Ringen der aus Frankreich stammenden jungen Professorin mit den Einfällen ihrer Hyperintelligenz, die sie niederschreibt und an die Öffentlichkeit bringt, ohne das eigentlich zu wollen. Oder das liebevolle Turteln der früh mißbrauchten und dann immer nur ausgenutzten Putzfrau mit der Krähe in einer Voliere, mit der sie sich schließlich verlobt. Immer wieder Anlässe für Äußerungen des Autors, die wie in Stein gemeißelt dastehen. Das heißt, man muß bei der Lektüre dieses Buches immer wieder nach dem Kugelschreiber greifen, um zu unterstreichen, was man so noch nirgends gelesen hat.

Fazit: In der Zeit der öden Debütantenmode ist es eine Wohltat, ein großes Werk eines Altmeisters der Literatur lesen zu dürfen.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

Dieser Beitrag wurde unter Buchbesprechung veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.