Arnaldur Indridason: Kältezone

Mehrwert-Krimi

(Arnaldur Indridason: Kältezone, Island-Krimi, aus dem Isländischen von Coletta Bürling, Edition Lübbe, Bergisch Gladbach 2005, 413 Seiten mit Karten vorne und hinten, gebunden 18,- €)

Generell kann man die Literaturgattung Krimi so definieren: Der Krimi ist der Rennwagen der Literatur, aufregend aufgemotzt, aber zu nichts nütze, zudem von einem gefahren, der nichts anderes kann als fahren und nur darauf aus ist, schnell an ein Ziel zu kommen, das kein Ziel ist.

Um so reizvoller ist die Suche nach einem Krimi, der mehr ist. Hat der isländische Erfolgsautor und ehemalige Journalist und Filmkritiker Arnaldur Indridason, zweimaliger Gewinner des Nordic Crime Novel’s Award, mit „Kältezone“, dessen Originaltitel lautet „Kleifarvatn“, einen solchen Krimi mit Mehrwert geliefert? Daß das Buch mit Leineneinband und mehrfarbigem Schutzumschlag daherkommt, mit Fadenheftung und Kappband, das allein

besagt noch nichts. Nur zu verständlich, wenn ein Verlag versucht, seine Angebote zu Premium-Produkten hochzustilisieren. Dabei sogar den Autorennamen mit einem isländischen Schriftzeichen zu schreiben, das es in unserem Alphabet nicht gibt, ist wie Schlagobers auf dem Wiener Kaffee. Man weiß in Bergisch Gladbach: Die Deutschen lieben Ausländisches.

Der Roman – ein typischer Whodunit – gehört zu der Klasse der Inspektor- bzw. Kommissar-Krimis, die jedes Verbrechen mit kuriosen Charaktereigenschaften des Ermittlers zu garnieren pflegen, um es goutierbar zu machen. Damit man sich in der Masse dieser Klasse noch zurechtfindet, werden dem Leser der Name des Kommissars und die Ordnungszahl des Ermittlungsfalles eingehämmert. Hier ist es Kommissar Erlendurs sechster Fall.

Der erste Satz des Romans kommt, wie es sich für das Genre gehört, sofort zur Sache: „Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Knochen, die nicht dort hätten sein sollen. Genauso wenig wie sie selbst.“ Wer könnte sich diesem Sog offener Fragen versagen und das Buch einfach zuklappen?

Doch es geht um einen anderen Sog. Der südlich der isländischen Hauptstadt Reykjavik gelegene See mit dem Namen Kleifarvatn sank seit einigen Jahren stark ab, weil sein Boden bei einem der dort üblichen Erdbeben Risse bekommen hatte. Jetzt ließ der Schrumpfsee ein menschliches Skelett zum Vorschein kommen, das an ein Sendegerät russischer Bauart angekettet war. Und Kommissar Erlendur, dessen persönlicher Tick ist, sich um Verschwundene zu kümmern, die längst ad acta gelegt sind, kommt nicht mehr zur Ruhe.

Der Leser auch nicht. Er hat immer wieder Schwierigkeiten mit den vielen isländischen Vornamen, und nur die werden in Island benutzt. Sie haben meist die aparte Eigenart, das Geschlecht nicht erkennen zu lassen. Schon irritierend, wenn man nicht weiß, ob es sich um Männlein oder Weiblein handelt.

Für weitere Irritationen sorgt der Text, zumal wenn er einige unserer fünf Sinne in Konfusion bringt, wie zu Anfang des siebten Kapitels: „Manchmal, wenn er zurückdachte, spürte er noch den Geruch im Hauptquartier am Dittrichring, den beißenden Geruch von dreckigem Linoleum, Schweiß und Angst. Er erinnerte sich auch an den säuerlichen Gestank der Braunkohle, der über der Stadt lag, so daß man manchmal die Sonne kaum sah.“ Der wohlmeinende Leser bemüht sich vergebens, Geruch zu spüren und den Gestank vor der Sonne zu sehen. Ein Glück für den Autor, daß man ihm diesen Nonsens nicht zurechnen kann. Im Isländischen kann man tatsächlich Geruch auch fühlen, was man dann aber nicht ins Deutsche bringen darf. Und im Originaltext rührt der Gestank von der Luftverschmutzung her, von der Übersetzerin schlicht unterschlagen. Die ließ einen tatsächlich manchmal die Sonne kaum noch sehen. Nur zwei Beispiele, willkürlich ausgewählt, die die Schludrigkeit der Übersetzung zeigen. Das schränkt natürlich den Genuß der minutiösen Aufklärungsarbeit ein, die geschildert wird.

um Glück entschädigt das Buch mit anderen Vorzügen. Da ist zum einen die ausführliche Schilderung der Verhältnisse in der DDR der sechziger Jahre zu nennen, die sozialistisch gesinnte isländische Studenten als Stipendiaten in Leipzig genießen und erleiden. Wie die Brutalität des ostdeutschen Spitzelsystems gezeigt wird, von den Studierenden nur allmählich durchschaut, das ist packend und macht das Buch auch für den Leser lesenswert, dem das Gerippe auf dem Seeboden Wurscht ist. Weil der Roman plötzlich zu einem Stück ernstzunehmender Gegenwartsliteratur wird. Hatte doch die 1940 erfolgte Besetzung Islands durch die Engländer und anschließend durch die Amerikaner bei den hinterwäldlerischen Insulanern zu weitverbreiteter sozialistischer Begeisterung geführt. Und so sehr die Isländer heute in ihrem Alltagsleben schon amerikanisiert sind, den kleinlaut gewordenen ehemaligen Kommunisten begegnet man in Island immer noch auf allen Ebenen.

Zum anderen überzeugt das handwerkliche Können des Autors. Beispielsweise wenn er in bester Literatenart mit den Erzählperspektiven spielt oder wenn er über lange Strecken offen läßt, wer der gerade Agierende ist. Und mit der Reihung der Kapitel, die dem Prinzip des Cross cutting folgt, zeigt Indridason, daß er auch vom Spielfilm gelernt hat.

Die letzten vier Seiten allerdings hätte der Autor sich verkneifen sollen. Denn da wird das Bemühen, Literatur zu schaffen, zum Krampf.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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