Nur zu gern in Ungarn (2008)

Im Westen des Landes unterwegs, in einer Landschaft, die naturgesät und wildwuchsig scheint, mit kleinen Weilern da und dort, in denen mehr Leute auf dem Friedhof zu finden sind als in den Häusern. Wenn überhaupt Menschen in den Behausungen sind. Niemand zu sehen. Doch die Schüsseln neben den Fenstern beruhigen mit dem Hinweis: Hier wohnen Leute, die satellitisch so schön rundum versorgt sind, wie ihr daheim.

Der alte Schiffsanleger auf dem Balaton

Der alte Schiffsanleger auf dem Balaton

Das Asphaltband, auf dem wir fahren, ist so neu wie die parallel laufende Bahnstrecke mit den grünen Schallschutzwänden vor und hinter dem kleinen Bahnhof. Ich zähle gelangweilt die Masten für die Elektrifizierung. Sie stehen noch leer im Gelände, frisch in der Farbe, dienstbereit. Aber das Geld aus Brüssel kann mit der ungarischen Eisenbahn nicht mithalten.

Der Balaton oder Plattensee, erst als ich an seinem Ufer stehe, kann ich glauben, dass er größer ist als der Bodensee und selbst größer als der Genfer See. Ja, zugegeben, das größte Binnengewässer Europas, zumindest der Fläche nach. Aber mein geliebter Bodensee hat doch weit mehr Wasser, weil er viel tiefer ist, widerspreche ich mir. Bin dann aber vor allem mit den Mücken beschäftigt, bis ich überrascht feststelle: Die stechen ja gar nicht. Andere Länder, andere Sitten.

Auf der Fahrt nach Süden erinnern Riesenfelder an die DDR. Das System der Kolchosen, die hier lediglich anders hießen, ist nicht überwunden. Sie nennen sich heute Genossenschaften und zeigen immer noch die imponierenden Berge von Strohballen und den ebenso imponierenden großen Fuhrpark mit Landmaschinen aller Art und aller Stadien des Rostens. Im Gespräch mit den Leuten heißt es: Früher war alles schöner.
Eine ungarische Kleinstadt, das ist neben der Gemütlichkeit mit der Kirche mittendrin die Begegnung mit alten Bekannten: Plus, Praktiker, Obi, Citibank, Volksbank, Rossmann, Metro und so fort. Nur die großen Zahnarztpraxen mit angeschlossenem Hotel sind überraschend. Ungarland, Dentalland, wohlbekannt bei dem, der weniger zu beißen hat.

Auffallend, Storchennester liegen mit Vorliebe auf den Masten der Telefonleitungen, die in wirrem Hin und Her die Straßen überspannen. Als wäre das der optimale Nistplatz für Adebar, der mitkriegen muss, wo ein Kind gewünscht wird.

Dörfliche Pracht jenseits der Pußta

Dörfliche Pracht jenseits der Pußta

Hügellandschaften begleiten uns in ihrer hellbraunen Eintönigkeit wie weite Dünenhänge, versetzen mich in die Sahara. Dabei sind das bloß abgeerntete Sonnenblumenfelder. Lange genug haben die stolzen Riesenblumen ihre schwarzen Köpfe hängen lassen, übrigens alle in dieselbe Richtung. Weiß der Himmel, warum. Ich kann sie nicht mehr fragen, weil hier die Mähmaschine schon vor mir ankam.

Die Zigeuner sind im Land der Magyaren eine anerkannte Minderheit. Hier braucht man sie deshalb nicht mit Sinti und Roma zu umschreiben. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sind sie zwangsweise festangesiedelt worden. Heute fahren wir durch Dörfer, die ganz in Zigeunerhand zu sein scheinen, der dunkleren Haut- und Haarfarbe nach zu urteilen. Und viele Siedlungen sind mehr oder weniger gemischt. Offiziell kein Problem, wenn auch ein Sprichwort sagt, drei Wörter wolle ein Ungar nicht aus Zigeunermund hören, nämlich: Guten Morgen, Nachbar.

Mahnmale auf dem Schlachtfeld von Mohács

Mahnmale auf dem Schlachtfeld von Mohács

In Mohács an der Donau, im südlichsten Zipfel des Landes, haben die Ungarn ihre größte militärische Niederlage erfahren, nämlich am 29. August 1526 in der Schlacht gegen ein von Serbien her einfallendes riesiges Osmanenheer, dem sie chancenlos unterlegen waren. Damit begann die rund einhundertfünfzig Jahre währende Herrschaft des Halbmonds in Ungarn. Sonderbar berührt mich, dass man zur Erinnerung an dieses Scheitern mitten in Mohács eine moderne Kirche gebaut hat, die Votivkirche, die mit ihrer hohen Kuppel wie eine Moschee aussieht, nur dass das Minarett daneben fehlt – noch fehlt, weil das Geld ausgegangen war. Ein nachdenklich machender überlegener Umgang mit der Geschichte.
Auch im Verkehr ist der Ungar sehr leger. Durchgezogene Linien, Verbotsschilder, Geschwindigkeitsbegrenzungen, alles nicht so ernst zu nehmen. Autofahren als Risikospiel, das hat seinen Reiz. Zumal meist noch die Hinweise auf die gesuchten Ortschaften und Attraktionen fehlen. Die Schilder sind bestellt, hörte ich, nur können sie noch nicht bezahlt werden. Da zahlt man ja gern die 40 Euro Strafe für den nicht exakt eingehaltenen TÜV-Termin, den die Polizei bei ihrer Routinekontrolle entdeckt hat.

Grabstein auf dem alten Friedhof von Nadasch

Grabstein auf dem alten Friedhof von Nadasch

Mitten im Gebiet der Donauschwaben das kleine Weindorf Mecseknádasd, auf Deutsch Nadasch. Die lange Hauptstraße ist gut in Schuss gehalten, an beiden Seiten stehen die Häuser der Einheimischen stramm, Giebelgesicht zur Straße. Doch die Herren Offiziere in den Lastwagen, die niemals stehenbleiben, reiten auf der Umgehungsstraße die Front ab, bewegen sich ächzend oder knurrend, schimpfend, schnaubend oder auch zufrieden brummend einer hinter dem anderen zur Wendeschleife hin und dann den Berg hinauf, wo sie im Wald verschwinden. Dann sind sie nicht mehr zu sehen, doch noch lange zu hören. Fast jedes dritte Haus ist eine Baustelle, mit Anbau, Ausbau oder Garagenbau geschmückt, wie mit frischen Kriegsverletzungen, deren weiße Verbände sie mit Stolz tragen. Schnell bekommt man den Eindruck, der Generalstab ist sich nicht einig. Denn immer wieder andere Offiziere reiten die Front ab, soherum und andersherum. Ein endlos irrwitziges Hin und Her, typisch Militär. Und in der Nacht kommentieren die Hunde in ihren weitschweifigen Unterhaltungen von Haus zu Haus, was sie von dem Tagesgeschehen halten. Oder sprechen sie etwa über das Fernsehprogramm? Hunde, die mit der Zeit gehen? Egal. Dass niemand versucht, die Hundesprache zu verstehen, spricht ja für sich.
Dorf ist, versteht man hier schnell, wo vom frühen Morgen bis zum Abend gesägt, gehämmert, gebohrt, geschliffen oder Rasen gemäht wird. Eine Musik der Arbeit, authentisch, abwechslungsreich und gekonnt instrumentalisiert. Und doch scheint niemand ihr lauschen zu wollen. Die vereinzelt vor und hinter den Häusern herumstehenden Bäume schütteln die Köpfe über diese Ignoranz, stumm und verzweifelt. Ja, Glück auf dem Land hat, wer kein Baum ist, denn die haben von allen Kreaturen die größten Ohren. Und ihr Fluchtversuch, der nur nach oben führen kann, hilft ihnen nicht, lässt sie nur noch früher einschlagwürdig werden.

Im Weinberg geht es munter zu. Jeder, der zu seinem Weinfeld oder Weinkeller geht oder fährt oder von dort kommt – das sind jetzt schon recht viele mögliche Situationen – bleibt bei jedem, der am Weg seinen Keller offen hat, stehen oder setzt sich an seinen Tisch mit den Flaschen ohne Etiketten und den schnell kalt ausgespülten Gläsern. Dann muss er von dem probieren und von dem, kennerisch schnüffelnd und genießerisch schlürfend und zufrieden nickend, ehe er weiterkommt auf seinem Weg zur Arbeit oder von der Arbeit. Und so jeden Tag und das jahrein und jahraus, wobei der plattenbelegte Pfad immer schlechter wird, das klapprige Gefährt oder Knie immer unzuverlässiger. Doch dafür verkostet man immer fachmännischer den Wein, spricht die üblichen Begriffe immer geläufiger, Chardonnay oder Cuvée, als sei Französisch die Muttersprache, und hat keinen Blick für das alte Staatswappen mit Hammer und Sichel als Plakat oder das Marxbild, das an der Wand hängt, oder für das prallbrüstige Mädchen, das einen als Pin-Up-Foto anlacht. Alles erledigt. Der Wein muss alles ersetzen. Und irgendwann wird er auch das Leben ersetzt haben. Um mit ihm zu verschwinden. Denn die Winzer sind lauter alte Männer, die wissen, dass ihre Weinkeller bald leer bleiben werden, weil sie selbst dann unter der Erde liegen und die Kinder kein Interesse an dieser harten Nebentätigkeit haben und ganz woanders leben. Mecseknádasd hat deshalb schon einen neuen Friedhof aufgemacht. Der wird nicht mehr deutschsprachig sein, wie der alte Friedhof an der Bergstraße, auf dem die dreihundert Jahre alte Einwanderung der deutschen Siedler abgelegt ist.

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