Kein Irisches Tagebuch (2001)

Dasselbe Gefühl wie auf Rhodos und Gotland: Diese Insel hat eine Größe, die einem das Insulare zur immer wieder neu bemühten Meerumschlungen-Eigenart werden läßt. Äußerst mühsam, weil beim stundenlangen Herumlaufen und tagelangen Herumfahren völlig unglaubhaft. Auch bewegen sich die Leute hier nicht anders als Festlandmenschen. Nur daß sie anders sprechen. Und daß sie besonders gern schreiben, worauf sie nicht wenig stolz sind. Wie auf ihre Geschichte. Dabei war doch nur immer das Erleiden von Eroberung und Unterdrückung zu beschreiben. Erst kamen die Wikinger, dann die Normannen und schließlich die Engländer. Aber das ist bei anderen Inselbewohnern nicht anders. Die können auf noch viel phantastischere Blutsmischungen verweisen. Wenn ich nur an Malta denke oder an Sizilien.

Landschaft ist hier die Generation für Generation mit schmutzigen Händen vollzogene Trennung von Fels und Erde. Die Steine aus den Feldern aufgelesen und zu ihrer Umrandung aufgehäuft oder auch voller Hoffnung zu Katen und Kirchen aufgeschichtet und fronend zu Trutzburgen hochgetürmt. Und daneben Kriegsdienst geleistet und gleichzeitig die Felder bestellt und abgehungert, immer wieder neue Kreuze aufgestellt.

Alles Einstellungssache. Gras, wenn es hingemäht daliegt, entfaltet einen Duft, für den wir uns begeistern können. Menschen, hier in früheren Jahrhunderten genauso großzügig hingemäht, und welche Landschaft hätte nicht ihr berühmtes Schlachtfeld, haben einen Duft entfaltet, für den sich außer den Siegern niemand begeistern konnte.
Anders als Mallorca, das sich mit dem zu Dumpingpreisen angelockten Badepöbel Verstopfung und zig andere Leiden eingehandelt hat, kann Irland auf ein ausgesucht gutes Besuchervolk verweisen. Literatur- und Musik-Enthusiasten, daneben Aktiv-Urlauber wie Golfer, Reiter, Angler, Radfahrer, Wanderer und Hobbykapitäne. Denen kann man die durchweg überzogenen Preise zumuten.

Bewunderswert, wie geschickt die Iren ihre vormalige Armut vermarkten. Die Literatur trieft von Armeleuteschweiß und Tränen der Verzweiflung. Was es dem Besucher leichter macht, sein Geld auszugeben. Forciert doch stets der Kontrast erst den rechten Feriengenuß. Insofern ist Irland für uns Mitteleuropäer das allernächste der beliebten Entwicklungsländer, bei denen wir uns auf der Armutsfolie besonders prächtig abheben.

In Irland liebt man es, alles mit Häuschen vollzustellen, die reihenweise gleich aussehen. Putzigkeit von der Stange, an frischgeteerten Nebenstraßen aufgereiht. Sich als Bewohner die eigene Hausnummer einprägen zu müssen, um nachhause zu finden, wird als eine gute Gedächtnisübung geschätzt. Doch die Vielfalt des Lebens, daran fehlt es nicht, sie wird aus der Schüssel auf dem Dach ins Einheitsnest geschüttet. Sogar außerhalb der Ortschaften, auf der grünen Wiese stehen Häuser aus dem Katalog wie in Amerika, eins so neu und perfekt wie das andere. Da freut man sich über jedes altirische Bauernhaus, langgezogen und mit überkragendem Dach vorn wie hinten und mit den schmalhohen Giebelwänden an den Seiten, kamingekrönt. Alles aus grauem Felsstein, wie aus dem Boden herausgewachsen.

Alles ist konsequent zweisprachig ausgeschildert. Mit der Erhaltung der gälischen Sprache machen sie ernst, so scheint es. Weil die Regierung weiß: Sprache ist Kultur. Ein Volk, das seine Sprache aufgibt, gibt seine Kultur und damit sich selbst auf. Natürlich ist dieses Bemühen um die eigene Sprache in erster Linie gegen den Besatzerstaat England gerichtet. Doch führt es immerhin dazu, daß man überrascht ist, wenn man einen Ort findet, der nicht zweisprachig benannt ist, sondern nur gälisch: Dun Laoghaire. Und was lieben wir mehr als Überraschungen, wir Touristen?

Ein 700 Jahre lang unterjochtes Volk, das seinen Stolz nicht verloren hat, wohl aber seine Sprache. Und das heißt: fast alles. Machen wir uns doch nichts vor: Die doppelten Bezeichnungen auf den Verkehrsschildern sind nicht mehr als Feigenblätter. Und daß die Iren sich dabei noch sagen lassen müssen, sie hätten dafür eine Weltsprache bekommen, also ein großartiges Tauschgeschäft gemacht, das ist typisch irisches Mißgeschick..

Über die Insel fahren mit vier verschiedenen Straßenkarten auf dem Schoß. Denn die Landschaft ist so leer, daß den über die Weiden stiefelnden Kartographen manche Siedlungen gar nicht aufgefallen sind. In jeder Karte stehen und fehlen andere Ortsnamen an unserer Straße.  Je nachdem,  wie schnell die Blätter auf dem Schoß gemischt werden, ein Spiel mit verdeckten Karten. Dabei dreist Gas geben und die Kunst genießen, gleichzeitig da und dort und nirgends zu sein.

Überall im Land frisch geteerte schmale Straßen, obwohl so breit wie nur eben möglich, den buschigen Hecken noch auf die Füße geteert, damit zwei Lastwagen sich aneinander vorbeischieben können. Aber was heißt hier Hecken? Das sind gewaltig hohe grüne Mauern, von speziellen Mähmaschinen glatt rasiert und leicht ausgekehlt wie die Mauern einer Bobbahn. Und wo die Bäume, die in den grünen Mauern stecken, über uns die Hände zusammenschlagen vor lauter Freude über das viele Grün, fahren wir durch vegetabile Tunnels ohne Notbeleuchtung und Entlüftungsschächte. Immer brav links bleiben und auf den Gegenverkehr achten, der zischend an uns vorbeifährt, während wir die Fenster hochgehen lassen, damit die Hecke uns nicht um die Ohren schlägt.

Ja, Irland ist das Land der Mauern. Zwischen den Überallweiden und gelegentlichen Feldern die grauen Mauern aus aufgelesenen Felssteinen, als enges Korsett der Straßen die grünen Mauern aus dichtverheddertem Buschwerk und ums Haus herum die weißen oder bunten Mauern, die das Home zum heimeligen Castle machen sollen.

Die vielen kleinen Hinweisschilder an einem einzigen Pfahl an der Straßenkreuzung  erzwingen ein anderes Verkehrsverhalten. Zumal wenn die Hinweise hinter der Kreuzung stehen statt vor ihr. Man fährt in die Kreuzung hinein und hält an und studiert die Beschilderung und entdeckt endlich, daß das gesuchte Schild durch ein anderes verdeckt wurde, und kann endlich den Blinker betätigen und den Weg freimachen für die anderen, die geduldig gewartet haben.

Immer wieder wundere ich mich, daß die Wasserhähne vertauscht montiert wurden, das kalte Wasser links und das heiße rechts. Was nicht so unangenehm ist, wie wenn viel zu heißes Wasser aus dem Hahn mit dem blauen Ring kommt. Mit solchen Überraschungen soll einem wohl bewußt gemacht werden, wie schön es zuhause ist, wo man alles kennt. Ein typisches Auswandererland hat seine eigene Art der Heimeligkeit-Verherrlichung.

In Griechenland und in Spanien wollen sie einem im Restaurant gleich nach dem letzten Bissen einen Kaffee verkaufen. Kein Gedanke daran, daß man dem Magen ein wenig Zeit lassen sollte zum Verdauen, ehe man das Blut aufpeitscht, damit es das müde Gehirn wachrüttelt. Die Iren treten noch kürzer. Sie wollen einem schon zum Essen den Kaffee servieren.

Die Gedanken sind frei, sage ich mir. Und denke dreist an die Korrelation zwischen Armut und Kinderreichtum, die hier eine weitere Korrelation zum Katholizismus aufweist, was auf das Thema Bildung verweist und auf die Ungerechtigkeit, mit der die Natur die Menschen mit Intelligenz ausstattet. Und ich lenke mich ab, indem ich mir klarmache, daß Korrelation noch lange nicht Kausalität bedeutet.

Sonnenuntergang in Dingle. Die Elemente sind im Clinch, als wären Thor und Freya sich nicht einig. Wolken wehen den Kampf kaschierend um die Bergkuppen, und die Sonne rollt wehmütig den Kamm entlang, lugt da und dort durch den weißen Vorhang. Ein rotmüdes Abendgesicht, wie sie hinterm Gehügel ins Bett geht, wie hinter einem Paravent. Und ich stehe da, wechsel die Farbe und bleibe ganz ohne zurück, muß mich mit der Nacht zufrieden geben.

Aus Spanien kommend, wo sogar Kühe in der Stierkampfarena gegen Jungtoreros losgehen mußten, um als potentielle Stiermütter auf die nötige Aggresivität getestet zu werden, wandere ich in Irland über die Weiden, zwischen den Ochsen hindurch, denen nicht nur alle Aggressivität genommen wurde, denen man sogar die Hörner weggesägt hat. Was sollen sie auch damit? Wo das Gras so üppig steht, brauchen sie nur ihre lange Zunge, zum Rupfen, Rupfen, Rupfen. Und hinten lassen sie es gleichzeitig – in Farbe und Konsistenz verändert – rausfallen. So unbeteiligt tuend wie Hundebesitzer, die wegschauen, wenn ihr Liebling auf den Bürgersteig macht. Als wäre es verboten, die Weide zu düngen. Wie erbärmlich der Anblick des schwarzen Ochsen auf dem Hügel, wie er in strammer Osborne-Haltung vor dem Abendhimmel steht. Und keinen Blick hat für die Kühe, die mit ihm die Weide teilen. Weil man die Eier aus dem Nest geraubt hat. Flach wie eine leere Wärmflasche hängt der Beutel da, und aus dem Quast unterm Bauch schaut nie ein spitzer Glutblick hervor. Da kann ihm die schwarzweiß gescheckte Kuh noch so herausfordernd das Hinterteil zuwenden.

Dingle hat was Besonderes zu bieten. Seit Taucher im Jahre 1984 in der Bucht vor dem Städtchen einem Delphin begegnet sind, hat der Ort eine Attraktivität, die in allen Reiseführern erwähnt wird, den Delphin Fungie. Und täglich fahren die Touristen, die längst nach Zigtausenden zählen, mit kleinen offenen Motorschiffen in die Bucht hinaus. Für 17,50 DM auf Delphinjagd gehen, eine Stunde Jagdfieber erleben. Das Tier kommt zuverlässig, sobald es die Motorgeräusche hört, und zeigt sich gern dem Publikum, wird versprochen. Und wenn es mal nicht kommen sollte, ist die Fahrt kostenlos. Der Gehilfe des Bootsführers schaut mit Scheinwerferaugen übers Wasser und deutet mit der Hand mal nach rechts, mal nach links, wo sich aus der Welle ein Sprungkörper löst. Und alles drängt sich mit Ah und Oh an Backbord zusammen, gleich danach an Steuerbord, die Kamera gezückt. Das sind fast immer kleine Pocket-Kameras. Die Zeit der professionell geschulterten Videokameras auf starken Männerschultern ist also schon vorbei. Und selbst die Leute mit den einäugigen Spiegelreflexboliden haben nicht mehr die langen Telerohre drauf, dem Mann als schwarzer Lustschlauch vor dem Bauch wippend, daß er aussieht, wie ein vor Erregung auf die Hinterhand gestiegener Zentaur. Das Boot kreuzt hin und her, immer wieder von Luftsprüngen des Delphins begleitet. Ein zweites und drittes Boot, dann sogar ein viertes und fünftes. Das Objekt der Begierde wird eingekreist, von allen Seiten schußbereit anvisiert. Doch es führt die Überlegenheit des Tauchers vor, ist immer wieder woanders, immer wieder zu überraschend, um einen guten Schnappschuß abzugeben. Trotzdem, das Knipskistchen wegstecken kann man erst, wenn man sich klargemacht hat, daß das glatte schwarz-graue Wesen aus Kunststoff ist, von einem der Bootsführer heimlich funkgesteuert und natürlich gesponsert von der Firma Fuji.

An der Schnellstraße von Castleisland nach Limerick gesehen: Die Café-Bar, die sich mit etlichen Flaggen schmückte. Natürlich die irische Flagge und natürlich keine britische Flagge, aber die schweizer Flagge – und die deutsche Flagge in der schon etwas überlagerten Fassung mit dem DDR-Symbol drauf. So schnelles Changieren der Geschichte kennt der Ire halt nicht.

Das ist Irland. Wenn der Genießer beim heftigen Hantieren mit Messer und Gabel an dem Haufen Fish and Chips auf seinem Teller zu seiner Tischnachbarin sagt – natürlich mit vollem Mund und nach etlichen Whiskeys: „Jetzt fühle ich mich als ein besonders glückliches Zwischenglied der unendlichen Nahrungskette.”

Wer will es den Iren verdenken, daß sie so unmäßig saufen. Sind sie doch jahrhundertelang mit den Kochkünsten ihrer britischen Herren malträtiert worden. Da kann man nur darauf ausweichen, sich flüssig zu ernähren.

Junge Frauen mit nackten Armen überraschen durch die beiden Impfmale, die sie auf dem Oberarm tragen. Ja, richtig, diese Pieksereien gab es bei uns auch einmal. Gegen diese und jene Krankheit. Vor langer, langer Zeit. Hier sind offenbar bis vor wenigen Jahren noch solche Impfungen vorgeschrieben gewesen, vermutlich die eine gegen die Gefahren des Protestantismus und die andere gegen die drohende allgemeine Verweltlichung.

Die jungen Mädchen rundum. Längst sind sie nicht mehr alle rothaarig und sommersprossig. Dafür sorgt die Kosmetikindustrie. Sobald die Sonne scheint, sehen sie in Irland nicht anders aus als an südlichen Küsten. Und gehen genauso unter Palmen daher. Ihre Brüste präsentieren sie, als wären sie Fangeisen, bei jedem Schritt wie zuschnappend. Dafür werden die nackten Arme nur sparsam bewegt, die babyglatten Achseln kaum mal gezeigt, es sei denn ein Gegenüber, das sich schon ums Kinn herum rasiert, sei zu beeindrucken. Und die Füße schieben sich scheinbar ziellos dahin, wie es im weltweiten Fernsehdorf gerade en vogue ist.

Kinder, Kinder, wo man hinschaut. Ich muß die Füße so vorsichtig setzen, um nicht draufzutreten, wie bei uns daheim wegen der Hundescheiße. Doch während an vielen Gebäuden und Straßen die großen Schilder stehen mit den 12 goldenen Sternen auf blauem Grund, die verraten, wer das alles finanziert, sucht man solche Hinweise bei den Kindern vergebens. Und fragt sich: Sind das die Arbeitslosen von morgen, wenn der üppige Geldsegen der Europäischen Union Vergangenheit ist, weil das Füllhorn über den neuen Ländern im Osten ausgeschüttet wird?

Die Begonien, die mich tiefer durchatmen lassen, weil ich ihren Anblick aus meiner Kindheit kenne, als sie in Bayern die Balkons schmückten, sie sind für mich dieselben Blumen, obwohl sie so niewiederholbar sind wie das Wasser des Liffey, das ich gestern gesehen habe. Weshalb ich den heutigen Fluß zu kennen glaube.

Die größten Gebäude sind immer noch die Kirchen, doch die schönsten Häuser sind traditionell die Kneipen. So einladend bemalt und mit Blumen geschmückt. Und daß das Buffet hinterm Tresen mit dem Mann in Hemdsärmeln aussieht wie ein Altar-Retabel, ist sicher kein Zufall. Der hier die Guinness-Messe liest, der Wirt, ist der Seelsorger der feuchten Seite des Ortes.

An guten Abenden in der Woche ist der typische Dubliner Pub ein wohlgefüllter Raum für die Erprobung der Stimmstärke. So friedlich und geduldig sie im Straßenverkehr sind, hier brüllt jeder Ire  jeden Iren an, so laut er kann. Und die Irinnen schrillen aus voller Brust dazwischen, daß es eine Lust ist. Zum Glück versteht man nicht, was sie sich gegenseitig an den Kopf werfen. Der Wirt verriet mir hinterher, man habe darüber gesprochen, wie schön der Abend sei. Und ich verstand: Ein allzulange unterdrücktes Volk berauscht sich an der eigenen Lautstärke.

So intensiv-katholisch wie man hier ist, die Sonn- und Feiertage werden nicht mit dem Puri-Fanatismus arbeitsfrei gehalten, wie bei uns daheim. Hier öffnen viele Läden, wenn man es als Deutscher nicht erwartet. Und das Tourismus-Center Dublins ist in einer wunderschönen Kirche untergebracht. Immer Mensch bleiben!

Burlington-Hotel, Dublin. Der Speisesaal wie die Bar, beide in wagnerianisch bombastischer Üppigkeit gestaltet, nur wie zu zwei verschiedenen Akten derselben Oper. Und die Musik ist britisch kongenial. Zum Davonlaufen. Doch die Amerikaner, die dieses Hotel vor allem füllen, können nicht davonlaufen. Dafür sind sie viel zu alt, gehbehindert und massig. Sie sind in Irland auf der Suche nach ihren Roots, wie sie voller Stolz sagen. Müssen verdammt dicke Wurzeln sein, denn die Kolosse von Arkansas genau wie die Venusse von Villendorf, die Vertreterinnen des aktuellen amerikanischen Schönheitsideals, stehen einem auf Schritt und Tritt im Weg. Sind sie vielleicht nur hier, um die Iren davon abzuhalten, ebenfalls auszuwandern?

Die Musik in Irland ist ein Kapitel für sich. Wenn auch für manch einen wegen ihrer hektischen Eintönigkeit kaum auszuhalten. Trotz oder wegen ihrer Verwandtschaft mit bayerischer Schrammelmusik. Dabei hätte man allen Anlaß, über die Beständigkeit des keltischen Erbes zu staunen. Aber wenn sie dann noch von britischer Feiermusik abgelöst wird, von diesem kakophon aufgehäuften Bombast aus Pompösität und all den versammelten Instrumenten, die auch mal drankommen wollen, kann ich nur fliehen. – Doch ich werde wiederkommen. Versprochen.

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