Türkei – Rückkehr ins Paradies (2003)

Zugegeben, die Nationalfarben der Türkei sind nicht Blau-Braun-Grün. Aber warum sollte ich sie nicht neu festlegen. Neu wie ich hier bin, in den Hügeln hinter der Ägäischen Küste: unter dem unentwegt blauen Himmel, auf der braunverkrusteten Erde und zwischen dem ängstlich sich hinduckenden Grün. Habe ein paar Vormittagsschritte hinaus nicht unterlassen können. Jetzt habe ich alles schnell von mir geworfen: die Kappe so durchgeschwitzt wie mein Hemd. Und habe mich an den Tisch geflüchtet. Zu meinem Laptop. Die Hände müssen über der Tastatur in Schwebe bleiben. Denn wenn ich sie einen Moment auf der Tischplatte ablege, Kunststoff-Furnier, bilden sie kleine Pfützen.
Mir ist, als wären die Bewohner der verstreut in der weiten Mulde vor mir liegenden Häuser und Siedlungen sämtlich an ihrem Laptop. Die Leute von Gümüslük, ebenso geräuschlos aus dem Leben verschwunden wie ich. Ihren Gedanken und Gefühlen hingegeben, ausgeliefert. Auf der Straße, die sich drüben quer durch meinen Blick zieht, keine Bewegung, nichts. An den halbfertigen Häusern da genau wie dort bewegt sich kein einziger Bauarbeiter. Auf den Minaretten der beiden Moscheen kein Muezzin. Die schwarze Kuh einsam im Rechteck des Mäuerchens aus aufgehäuften Feldsteinen, starr auf demselben Fleck, wie vor einer halben Stunde. Die Windmühle auf dem Bergkamm hat ihre Flügel längst abgelegt. Und die Schüsseln auf den Flachdächern, da und dort und überall, doch so schräg gekippt wie sie dastehen, können sie nur leer sein. Wahrhaftig, nicht einmal das immerwährende Wispern in der Telefonleitung, die parallel zur Straße die Masten verbindet, ist zu hören. Nur weil ich zu weit weg bin? Oder haben die Leute sich nichts mehr zu sagen an diesem heißen Oktober-Mittag?

Gerade gegenüber, vielleicht fünf Kilometer weit weg, hockt eine weiße Feriensiedlung am Hang, ein Haus wie das andere, in vier Reihen übereinander gestaffelt. Beim morgendlichen Appell und dem Kommando Augen rechts! schauen sie alle zur See hinunter und fühlen sich ferienmäßig. Rührt euch! Der Bauunternehmer hat nur wenige Büsche entfernen müssen, um dem Hang seinen weißglühenden Brandstempel aufdrücken zu können: „Glück im rechten Winkel.“ Mit offizieller behördlicher Genehmigung. Dennoch schaut der Hügel verletzt drein, und die anderen rundum würden am liebsten ihre graubraunen Häupter schütteln, können aber nur ausdruckslos vor sich hin starren: Wer weiß, was uns noch blüht.

Ja, was denn? Gelbe Blumen, dicht überm Boden, leuchten mir wie Minisonnenblumen ins Fenster hinein, Und eine Jungakazie winkt mir übermütig zu, dagegen bleiben die Krüppelkiefern und die kleinen Eichen bei einem bedächtigen Nicken als Gruß. Damit ich ihnen nicht die ersten kleinen Zapfen raube oder die Eicheln oder die prallen lila Galläpfel. Zurückhaltung ist bei Fremden immer angebracht, eine uralte Weisheit.

Eine Vision habe er gehabt, erzählt Ahmed beim roten Wein. Die Vorstellung vom wiederhergestellten Paradies. Also im absoluten Abseits ein großes Stück Land gekauft, am Nordhang, deshalb billig. Und darauf eine Siedlung gesetzt, die sich deutlich von all den Siedlungen unterscheidet, die auf die Süd- und Westhänge der Hügel ringsum gebaut wurden und immer noch weiter sich vermehren. Diese gewaltsam aufgerissenen Mäuler der Berge, mit den unheimlich vielen Zahnreihen übereinander, strahlend weiß gebleckt. Ein Zahn wie der andere und nichts dazwischen, das stören könnte. Furchteinflößend, wie die Berge die Gebisse zeigen. Dabei ist das nur gestapelte Wochenendseligkeit, aufgereihtes Urlaubsglück mit Fernsicht und Fernsehen. Für bescheidene Reiche.

Dagegen die Häuschen, die er gebaut hat, mit der Hilfe einer Bank, eines Architekten und vieler Jugendlicher, die als Freiwillige hier monatelang ihre überschüssigen Kräfte und ihre Abenteuerlust ausgelebt haben, unbescheidene Arme, diese Häuschen aus dunkel gestrichenen Holzplatten, blechgedeckt, sie stehen herum, als hätten sie sich im Gebüsch verlaufen, und sind wie gewünscht schon weitgehend zugewachsen. Weil die Vision vom Paradies grün war und bunt blühend, natürlich und alternativ und friedlich und positiv und wie all diese Begriffe sich uns aufdrängen.

Nun sitze ich da, zwischen Türken, deren Sprache ich nicht verstehe, und rund sechshundert Arten von liebevoll in den steinigen Boden gesteckten und allzeit mühsam getränkten Pflanzen sowie fünfzig verschiedenen Vogelarten, zwischen Schmetterlingen, Libellen und vielerlei Insekten, Fischen und Fröschen auch und allerlei huschenden Abkömmlingen der Urechsen en miniature. Glückliche Menschen zwischen glücklichen Tieren und glücklichen Pflanzen, weil kein Kunstdünger eingesetzt wird und kein Gift. Wie heißt es doch in der märchenhaften Schilderung vom Reich des Friedenskönigs in der Bibel: „Dann wird der Wolf beim Lamm zu Gast sein, der Panther neben dem Ziegenböckchen liegen; gemeinsam wachsen Kalb und Löwenjunges auf, ein kleiner Junge kann sie hüten.“

Zwar habe ich den Frühgesang der Vögel noch nicht ein einziges Mal gehört. Dafür bin ich am Abend zwischen acht und elf, wenn die Leute im Dorf drüben vor dem Fernseher sitzen, Ohrenzeuge der intensiven Unterhaltung ihrer Hunde. Von der ich ebenfalls nichts verstehe, dabei muß es um Wichtiges gehen, so lautstark und heftig Rede auf Widerrede folgt. Ein paar Insekten haben mir schon ihr Markenzeichen aufgedrückt. Das müssen freche Eindringlinge von außerhalb des Paradieses gewesen sein. Dort unten auf der von rabiat wehrhaften Kakteen und Agaven umfriedeten graudürren Weide stehen ein paar braungescheckte Kühe, die zwischen der Unmenge ihrer Kothaufen nach einzelnen Grashalmen suchen. Nur selten reicht die Energiezufuhr zu einem mürrischen Muh. Doch ein Esel schreit seinen Protest gegen die Fußfessel wortstark wehmütig zu mir hinauf.

Oder auch nicht zu mir. Weil ich hier im Garten Eden ein Fremdkörper bin, um es einmal modern auszudrücken. Die Tiere und Pflanzen rundum, sie haben ja nur das Überleben und Sichvermehren im Sinn, wie paradiesisch, während ich herumlaufe oder dasitze oder auf meinem Bett liege und das Ratata-Ratata in meinem Kopf niemals stoppen kann. Das unterscheidet mich von all den glücklichen Pflanzen und Tieren rundum. Denken, denken, denken. Ob das die Sünde war, die uns Menschen aus dem Paradies vertrieben hat? – Dann will ich nie mehr dorthin zurück.

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