(The Last Station, D/RUS/GB 2009, 112 Minuten, Drehbuch und Regie: Michael Hoffman, nach dem 1990 erschienenen Roman von Jay Parini: The Last Station – A Novel of Tolstoi’s Last Year)
So Freude verheißend der deutsche Titel daherkommt, der Film bringt das rabiate Gegenteil. Das Finale einer 48-Jahre-Ehe, die mit dreizehn Geburten eigentlich als sehr gut bezeichnet werden könnte, zeigt uns im Jahr 1910 zwei alte Menschen in Verzweiflung. Er flieht vor ihr, sie geht ins Wasser. Sie wird gerettet, er wird eingeholt. Der letzte Blick des 82-Jährigen erkennt das Gesicht seiner sechzehn Jahre jüngeren Ehefrau über sich. Ihre Anhänglichkeit schenkt ihm ein ruhiges Vergehen.
Es handelt sich um den russischen Schriftsteller Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi und seine Frau Sofia, die seit ihrer Hochzeit auf dem Familiengut Jasnaja Poljana leben, umgeben von dem in ihren Kreisen üblichen Wohlstandsprotz samt Dienerschaft und Hunderten von Leibeigenen, einem Ambiente, das der Dichter allmählich als nicht mehr zu ihm passend erkennt. Er entwickelt die Vorstellung von einem reinen Urchristentum, von einem einfachen, naturnahen und asketischen Leben, und er verhält sich auch so, nicht zuletzt mit großzügigen Förderungsmaßnahmen für seine Bauern. Was den alten Dichter im schlichten Russenkittel in seiner Gesellschaft immer mehr als Sonderling erscheinen lässt. Was ihn aber nicht stört.
Er ist mit seinen Büchern so populär geworden, dass sich eine Gemeinde von Anhängern gebildet hat, die in der Nähe seines Gutes eine Landkommune gegründet hat, in dem sie die Lehre Tolstois zu leben versuchen. Ihr Programm ist ein christlicher Anarchismus vereint mit Pazifismus. Der Dichter ist für diese Jünger ein neuer Christus. Auch das stört Tolstoi nicht, schmeichelt ihm vielmehr. Wer hätte dafür kein Verständnis. Doch lehnt er offiziell den Tolstojanismus ab. Der Anführer seiner Verehrer, Tolstois Freund, ist der Fanatiker Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow. Er genießt die Machtstellung eines Quasi-Kirchenführers, hat jedoch durchaus weltliche Ambitionen. Es geht ihm darum, Tolstoi zur Unterschrift unter einen Testamentsentwurf zu bewegen, in dem er die Rechte an seinem literarischen Werk nicht seiner Familie, sondern der Kommune seiner Anhänger und damit dem gesamten russischen Volk vermacht. In einem zähen Ringen mit Tolstois Frau gelingt ihm dieser Coup. Erst durch eine kurze Notiz im Nachspann des Films erfährt man, dass dieses Testament wenige Jahre nach Tolstois Tod von einem Gericht nicht anerkannt wurde.
Der Originaltitel bezieht sich mit seinem schönen Doppelsinn auf die Todesumstände Tolstois. Er ist, schon fiebernd, nur von seinem vertrauten Arzt und seiner jüngsten Tochter begleitet, am 10. November des Jahres 1910 überraschend aus Jasnaja Poljana geflohen, um sein Leben in Ruhe zu beschließen. Die Fahrt mit der Eisenbahn nach Süden führte ihn aber nur bis Astapowo, wo er im Bahnwärterhäuschen an Lungenentzündung starb. Man hat seine Frau Sofia noch gerade rechtzeitig hergeholt.
Mit der Zeichnung Tolstois als einem neuen Christus und mit mehreren Hinweisen auf den im Neuen Testament erwähnten Hahn, der krähte, als Petrus seinen Herrn verleugnet hatte, schafft der Film es, eine Parallele herzustellen zu der Situation, wie sie unmittelbar nach Jesu Tod beziehungsweise Himmelfahrt entstanden war. Damals kämpften die Anhänger Jesu, in erster Linie die zwölf Apostel, gegen die Familie Jesu um das Recht, als die Erben des Heilsverkünders aufzutreten. Obwohl es damals im Nahen Osten selbstverständlich war, dass die Familie den Verstorbenen beerbte, und das in jeder Beziehung, konnten sich die Jünger Jesu durchsetzen. Sie schoben die Familie so erfolgreich ins Abseits, dass sie bis auf Maria und Joseph in der Namenlosigkeit verschwand, als die Jünger daran gingen, auf der Basis der Lehre ihres Meisters eine Kirche zu gründen, nämlich das Urchristentum, dessen Wiederbelebung Tolstoi als großes Ideal vorschwebte.
Mit dieser Parallele bekommt der Film ein kulturhistorisches Gewicht, das weit hinausreicht über das Problemfeld Liebe, von dem immer wieder die Rede ist. Was gern übersehen wird, wie die üblichen Urteile zeigen. Für den „Spiegel“ ist der Streifen ein „mitreißender Film“, für den „Stern“ nur „Großes Kino mit grandiosen Darstellern.“ Natürlich kann man sich an solchen Nebensächlichkeiten erfreuen. Auch noch an der mühsam eingebauten Liebesgeschichte eines jungen Paars, das die Ehetragödie Tolstois konstrastiert. Das Vergehen und das Kommen mal wieder schön vorgeführt, zum zigtausendsten Mal. Darauf hätte man verzichten können. Worauf man aber unbedingt einen Hinweis erwartet hätte, das ist die geistige Strömung der Zeit, in die uns der Film versetzt. Dem bei Tolstoi bewunderten psychologischen Realismus, der in der Literatur seit langem herrschte, war inzwischen eine neue Gefühligkeit gegenübergetreten, der wir im Nachhinein den Namen Jugendstil gegeben haben. Seit zehn bis zwanzig Jahren bereits hatte er die Herrschaft in allen Lebensbereichen angetreten, der Aufruf: Zurück zur Natur!
Es hätte dem Film gutgetan, wenn diese allgemeine Reformbewegung als der herrschende Zeitgeist gezeigt worden wäre, genauso wie die bereits weit verbreitete Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen und die Überlegungen um die stärkere Berücksichtigung der Rechte des Kleinen Mannes. Immerhin war damals das Kommunistische Manifest schon 62 Jahre alt, und man wusste um die Nähe der kommunistischen Ideologie zu der christlichen Botschaft. Damit wäre die Sonderlingsrolle Tolstois etwas zurückgenommen und dem Dichter als einem streng konsequenten Sozialkritiker mehr Achtung erwiesen worden.
Soviel Ernsthaftigkeit aber wollten oder konnten die Filmemacher offensichtlich nicht investieren. Immerhin haben sie ein schönes Rührstück zustande gebracht.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de/category/filmbesprechungen/)