Der seltsame Fall des Benjamin Button

(The Curious Case of Benjamin Button, USA 2008, 159 Minuten, Drehbuch: Eric Roth und Robin Swicord, Regie: David Fincher, frei nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald)

Ein Film, der den Titel tragen könnte: Verkehrte Welt. Er beginnt mit der Enthüllung der großen Uhr an dem neuen Bahnhof von New Orleans. Der Konstrukteur dieser Uhr ist blind, aber der berühmteste Uhrenfachmann. Bei der Enthüllung der großen Uhr zeigt sich, dass sie rückwärts läuft. Das habe er absichtlich so gemacht, erklärt der Konstrukteur. Er wolle, dass sie ihm den im Krieg gefallenen Sohn zurückgibt.

Wir erleben einen besonderen Tag des Jahres 1918. Die Straßen von New Orleans sind voll von Menschen, die lautstark das Ende des Weltkriegs feiern. Dem Ende wird sofort ein neuer Anfang entgegengesetzt: In dem Moment der Enthüllung der neuen Bahnhofsuhr wird im Haus eines reichen Fabrikanten ein Kind geboren. Die Mutter stirbt dabei. Die Krankenschwester entsetzt sich, als sie das Baby sieht. Das Kind wird in Windeln eingehüllt dem Vater in die Hände gedrückt. Als er einen ersten Blick auf sein ausgewickeltes Kind wirft, ist er entsetzt und verzweifelt. Das Baby hat das Aussehen eines Greises. Er will es im Mississippi ertränken, wird jedoch gestört. Schließlich legt er es gut verhüllt auf der Außentreppe eines Altenheims ab. Eine der schwarzen Pflegerinnen des Hauses nimmt das hässliche Findelkind auf, nennt es Benjamin und wird ihm zur Ersatzmutter.

Benjamin, mit allen Zeichen und Molästen des hohen Alters geschlagen, verlebt seine Kindheit im Altersheim. Er macht dort als äußerlicher Greis eine Kinderbekanntschaft mit der blauäugigen kleinen Daisy. Das Leben des Jungen Benjamin läuft normal ab, nur andersherum. Der Greis wird allmählich immer beweglicher, wird zum Mann, hat Liebesbeziehungen usw. Sein Vater gibt sich ihm nach Jahren zu erkennen und vererbt ihm schließlich seine Knopffabrik. Der Vater wird alt, Benjamin wird immer jünger und stärker, wird ein Seemann und überlebt den Überfall der Japaner auf Pearl Harbor. Er trifft nach Jahren Daisy wieder, die eine gefeierte Tänzerin geworden ist. Sie werden ein Paar. Dann erleidet sie einen Unfall, der ihre Karriere beendet. Sie altert neben ihm, während er sich weiter verjüngt. Als das Paar ein Kind bekommt, läuft Benjamin davon, weil er den Gedanken nicht ertragen kann, als Kind, das er schon bald sein wird, der Spielgefährte seines Kindes zu werden. Doch als 85-jähriges Baby stirbt Benjamin schließlich im Altersheim in den Armen seiner Daisy.

Das Ganze wird in einer Rahmenhandlung gebracht. Eine alte Frau auf dem Sterbebett, die sich von ihrer erwachsenen Tochter aus einem Tagebuch vorlesen lässt, was dort über ihr Verhältnis zu Benjamin festgehalten wurde. Die Sterbende ist – wie der Zuschauer erst spät erfährt – die ehemalige Tänzerin Daisy. Und Benjamin war ihr Liebhaber. So erfährt die Tochter überm Vorlesen, wer ihr Vater war. Was sie leicht verstört nach einer Zigarette verlangen lässt.

Der Film lebt von der Irritation der Mitmenschen des Benjamin, der immer jünger wird, während sie älter werden. Das wird noch unterstützt durch den Hinweis: „Man weiß nie, was das Schicksal bereithält“, der gleich dreimal gebracht wird. Küchenphilosophie, die nicht unbedingt klüger macht, genau wie die Äußerung: „Wir alle enden in Windeln.“

Ein Höhepunkt des Films ist Benjamins Erlebnis des Überfalls auf Pearl Harbor zu der Zeit, als er von seinem Aussehen her eigentlich schon viel zu alt fürs Soldatsein, aber gerade in der besten Verfassung eines jungen Mannes ist. Seine sonderbar ausgeflippten Kameraden auf dem kleinen Schlepper haben kein Empfinden für diese Diskrepanz. Sie leben und sterben uns die platte Alltäglichkeit vor.

Ein weiterer Höhepunkt des Films ist die Herleitung der Ursache für den Verkehrsunfall der Tänzerin Daisy. Von einem Unbeteiligten zum nächsten und übernächsten und so weiter wird eine Kette von zufälligen Handlungen gezeigt, die dazu führen, dass das Taxi gerade in dem Moment daherkommt, als Daisy ohne einen Blick für den Verkehr die Straße überquert. Ein Intermezzo, viel zu eigenartig und kunstvoll für diesen Film, eigentlich geeignet für einen separaten Episodenfilm.

Der Film stützt sich auf eine Kurzgeschichte des amerikanischen Erzählers Francis Scott Key Fitzgerald (1896- 1940), die den Titel und die Idee des greisenhaften Babys, das immer jünger wird, gegeben hat. Daneben ist aber wenig mit der Erzählung identisch. Fitzgeralds Baby trägt einen langen Bart und spricht seine Pflegerin an, verlangt nach einer Dose Bier statt der Milch. Es heißt zuerst Methusalem, dann Benjamin. Der heiratet die Tochter eines Generals, scheitert an der Yale-Universität mit der Behauptung, er sei 18, weil er wie 50 aussieht, und später bei der Armee, weil er wie das Kind des Offiziers aussieht, der er offiziell ist.

Fitzgeralds 1921 geschriebene Erzählung ist ein Zeitbild, das die Anomalität Benjamins dazu nutzt, mit beißend ironischen Bemerkungen seine Gesellschaft zu kritisieren. Damit zeigte er sich als ein Hauptvertreter der sogenannten „Lost generation“, die sich als Opfer der Weltwirtschaftskrise sah. Mit solchen Erzählungen war er genauso erfolgreich wie mit seinen Romanen „Der große Gatsby“ oder „Der letzte Taikun“.

Der 2008 gedrehte Film konnte natürlich nicht mehr mit dem sublimen Spott in Fitzgeralds Erzählung aufwarten, musste sich deshalb etwas anderes einfallen lassen, um attraktiv zu wirken. Das waren zum einen bekannte Darsteller, zum anderen die übergestülpte umfangreiche Rahmenhandlung, daneben die eindrucksvollen Bilder vom Kampf des Schleppers, auf dem Benjamin diente, mit einem U-Boot sowie der kleine aber feine Episodenfilm im Film. Die rückwärts laufende Uhr mit dem rückwärts blätternden Kalender gleichzusetzen, war immerhin ein Gag, wenn auch etwas schief.

Doch wenn man sich fragt, was dieser Kinofilm mit Überlänge und drei Oscars zu sagen hat, dann ist das allenfalls, dass er suggeriert: Nichts ist ganz selbstverständlich so, wie es ist, denn es könnte auch alles ganz anders sein. Über den Rang einer amüsanten Unterhaltungskomödie kommt er damit aber nicht hinaus.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de/category/filmbesprechungen)

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