Das Wunder von Mailand

(Miracolo a Milano, Ital. 1950, 100 Minuten, Drehbuch: Cesare Zavattini, Regie: Vittorio De Sica)

Das gern als Tandem bezeichnete Duo von Drehbuchautor und Regisseur hatte 1948 mit dem die sozialen Mißverhältnisse anprangernden Film „Fahrraddiebe” (Ladri di biciclette) einen großen Erfolg errungen, und hatte doch das Gefühl, in einer Sackgasse gelandet zu sein. Aus Überdruß am Neorealismus, der immer nur Probleme zeigt, ohne zu Lösungen zu führen, entstand dann – inzwischen war in Italien die Zensur eingeführt worden – ein Film von kaleidoskopartiger Vielschichtigkeit, der zu seiner Zeit sensationell war und auch noch ein halbes Jahrhundert später mehr Fragen aufwirft als er Antworten gibt.

Da findet eine alte, schon etwas verkindschte Frau einen Säugling im Kohlfeld, nennt ihn Toto der Gute und zieht ihn liebevoll auf. Nach ihrem Tod kommt der Junge ins Waisenhaus, das er mit 18 Jahren als so lebensfremder wie menschenfreundlicher Habenichts verläßt. Er gerät in die Gesellschaft von Clochards und wird durch seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zum Organisator ihres Budenviertels. Als dort eine Ölquelle entdeckt wird, eins der Wunder von Mailand, kommt ein schwerreicher Grundstücksspekulant mit riesigem Polizeiaufgebot und will die Leute vertreiben. Da schwebt Totos Pflegemutter vom Himmel herab und überreicht ihm eine weiße Taube, mit deren Hilfe sich alle – auch die absurdesten – Wünsche erfüllen. Wunder über Wunder. Doch selbst die bewahren die Obdachlosen nicht vor der Vertreibung. Es bleibt ihnen schließlich nur, in geschlossener Formation als Besenreiter in den Himmel aufzufahren, Toto der Gute vorneweg. Auf der Suche nach dem Land, in dem man meint, was man sagt, wenn man dem anderen einen guten Tag wünscht.

Ein Film voll von schönen Bildideen und überraschenden Szenen, die über das Alltägliche hinausgehen. Da bieten sich Assoziationen zu ernst zu nehmenden Themen in Mengen an. Ist das die Überwindung des Neorealismus? – Die Frage kann nur mit vielen Einschränkungen bejaht werden. Der Film behauptet, daß es Ebenen oberhalb des Realistischen gibt, die allein durch den Glauben an sie und durch das Verlangen nach ihnen positive Wirkungen auslösen können. Was sehr fraglich ist, sagt derselbe Film. Aber selbst wenn sich das nicht als wahr erweisen sollte, ist es tröstlich, sagt der Film auch. Und getröstet zu sein ist schon eine Auswirkung auf die Wirklichkeit, resümiert derselbe Film.

Ein Meisterwerk der Filmkunst. Man kann es als eine Pioniertat des Spezialeffekt-Films feiern, man kann es als frühes Fantasy-Produkt sehen oder als modernes Märchen, genauso gut kann es als eine Kritik an jeglicher Himmelsgläubigkeit oder an der Blödheit der Menschen aufgefaßt werden oder als Verhöhnung des Zensors oder als ein sozialistisches Agitpropstück oder als eine Polemik auf die Neigung der Menschen zum Eskapismus. Wie es euch gefällt. Höchst amüsant und schön ist es so oder so.

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