(Barry Lyndon, GB 1975, 177 Minuten, Regie und Drehbuch sowie Produktion: Stanley Kubrick, nach dem Roman „The Memoirs of Barry Lyndon, Esq.“ von William Makepeace Thackeray)
Der Film war ein Flop, er hat als einziger der Kubrick-Filme (u. a. Lolita; Dr. Seltsam; 2001: Odyssee im Weltraum; Uhrwerk Orange) seine Herstellungskosten nicht eingespielt. Das zeigt, auch so berühmte Väter wie Thackeray und Kubrick können nicht verhindern, dass ihr Kind missrät. Damit sind wir schon beim Inhalt des Films. Und der lässt sich sogar bei solch einem Drei-Stunden-Opus in drei Sätzen angeben:
Der junge irische Landadelige Redmond Barry hat in einem Liebes-Duell einen britischen Offizier erschossen, glaubt das zumindest, weswegen er sich gezwungen sieht, seine Heimat zu verlassen. Er fällt unter die Räuber, dann mal in dieser Uniform und mal in jener unter die Soldaten, anschließend unter die Spione und Falschspieler und danach durch geschickte Heirat einer Adligen unter die superreichen Ignoranten. Obwohl er überall viel lernt, hat er Pech und endet als verbannter einbeiniger Invalide in Armut und Schande.
Es ist das die Verfilmung eines typischen Entwicklungsromans, also einer literarischen Form mit großer Tradition. Ein naiver Junge wird vom Leben zum Mann geformt, und der Mann scheitert am Leben. Thackeray lässt in seinem 1844 erschienenen Roman den jungen Barry am Anfang seines Weges mehrfach sagen, dass er leider in schlechte Gesellschaft geraten sei, aus der er sich zu befreien versuche, weil er nicht dazugehöre. Als er dann mit Hilfe der miesen Tricks, die er der schlechten Gesellschaft abgeguckt hat, ein Mitglied der noblen Gesellschaft geworden ist, fällt er auf eine Provokation herein und verliert die Contenance. Das darf man sich in dieser Gesellschaft nicht erlauben, weil sie einen dafür ausstößt. Heute würde man das Prinzip des Entwicklungsromans auf die Faustformel bringen: Mach dir nichts draus, dass du nichts aus dir machen kannst. Dieses Resümee aller Mühen ist für die Leser am ehesten zu ertragen, wenn der Entwicklungsroman als pikarischer Roman daherkommt, also als Schelmenroman. Und mehr oder weniger um einen solchen handelt es sich bei dem Roman „Barry Lyndon“.
Der Held dieses Buches erzählt selbst sein abenteuerliches Leben. Diese Form, die Thomas Mann mit seinem „Felix Krull“ zu einem umwerfenden Erlebnis machen sollte, klang bei Thackeray schon so: “Though, as a man of the world, I have learned to despise heartily the claims of some pretenders to high birth who have no more genealogy than the lackey who cleans my boots, and though I laugh to utter scorn the boasting of many of my countrymen, who ar all for descending from kings of Ireland, and talk of a domain no bigger than would feed a pig as if it were a principality; yet truth compels me to assert that my family was the noblest of the island, and, perhaps, of the universal world …”
Es spricht für den Leser Stanley Kubrick (1928-1999), dass er sich für William Makepeace Thackeray (1811-1863) begeistert hat, dessen berühmtestes Werk „Vanity fair“, der Roman ohne einen Helden, in den Jahren 1847 – 48 in zwanzig Folgen in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, deutscher Titel: „Jahrmarkt der Eitelkeiten“. Es spricht aber gegen den Filmemacher Stanley Kubrick, dass er den Barry-Lyndon-Flop nicht geahnt hat. Kubrick muss es genossen haben, wie fein ironisch Thackeray in seinem ausschweifenden Plauderton in einer altmodisch anmutenden Sprache seine Zeitgenossen gezeichnet hat, und er muss der Überzeugung gewesen sein, dass diese Schilderung der viktorianischen Gesellschaft auch für die einhundert Jahre später Lebenden noch zutreffend oder wenigstens goutierbar ist. Kubrick hat versucht, möglichst viel von der Süffisanz des Romans in den Film einzubringen, indem er manche Passage wörtlich zitiert hat. Dass dabei – zumindest in der deutschen Fassung – die Musik fast durchgängig zu laut geriet und die gepflegte Sprache niederknüppelt, ist ein bedauerlicher Fehler dieses Films. Möglicherweise ist das jedoch mit einer besonderen Hochachtung Kubricks für die alten Meister zu entschuldigen, handelt es sich doch vor allem um Musik von Händel, Bach, Vivaldi, Mozart und Schubert. Der Protagonist Barry Lyndon ist mehr als nur ein Schelm oder Abenteurer, deshalb auch im Film sympathisch und durchaus nicht klischeehaft dargestellt. Wie er sich als Vater aufführt, das zeigt ihn von seiner besten Seite. Doch der Tod seines geliebten Kindes ist zu breit ausgemalt, womit er den Rahmen eines amüsanten Historienbildes sprengt.
Im Vergleich mit den Filmen, die Stanley Kubrick berühmt gemacht haben, fällt „Barry Lyndon“ klar ab. Er bringt nicht die große Sensation, überhaupt nichts Spektakuläres. Das versuchte Kubrick mit Ausführlichkeit und opulenter Ausstattung aufzuwiegen, mit pedantischer Akkuratesse der Darstellung, mit vielen wie Gemälde wirkenden Landschaftsaufnahmen und mit einer speziellen Kameraführung. Kurz gesagt: Er musste Quantität einsetzen, weil die eigentliche Qualität Thackerays, die sprachliche Raffinesse, filmisch nicht darzustellen war. Das Außerordentliche, das dieser Roman zweifellos enthält, es kommt – typisch für Thackeray – nur vermummt daher. Der Dichter zeigt die Hohlheit der Gesellschaft auf, gibt Hilfestellung gegen Täuschungen, lässt vieles, das groß sein will, als Humbug entlarvt dastehen, und er trennt den Schein vom wahren Sein. Das aber alles so sublim gebracht, dass es für den Durchschnitts-Kinogänger nicht erkennbar würde. Dahinter steht bei Thackeray ein Menschenbild, das uns als sehr unvollkommene Wesen sieht, von Selbstsucht, Gier und Eitelkeit angetrieben. Liebe ist nur Schein, die Frauen suchen bloß Befriedigung, und die Männer suchen Selbstbestätigung und Geld. Bereits der erste Satz des Romans hätte Kubrick warnen müssen: „Since the days of Adam, there has been hardly a mischief done in this world but a woman has been at the bottom of it.“ Aber ohne eine Frauengestalt, die begeistert, und sei es als Femme fatale, kann man nur schwer einen Erfolgsfilm machen.
Dass der Film über den total gescheiteren Barry Lyndon in der Schlusseinstellung das Datum 1789 nennt, also das Jahr der Französischen Revolution, und darauf hinweist, alle Menschen seien gleich, ist als Fazit die verborgene Sensation dieses Films. Mit dieser grundsätzlich schwarzen Sicht auf den Menschen steht Thackeray in einer Linie neben Autoren wie Jonathan Swift und Wilhelm Busch. Die beiden Kollegen sind, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten, vom Buchmarkt zu Kinderbuchautoren umfunktioniert worden, Thackeray hat es nicht ganz so arg getroffen, er ist nur vergessen worden. Kubricks Film hat ihn für drei Stunden dem Vergessensein entrissen. Auch das ist verdienstvoll.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)