Ägypten, von allem die Überfülle (1991)

In der Wartehalle des Flughafens von Assuan stand eine kleine Pyramide aus Glas und Messing. Mir schien, nie hätte ich so was Prunkvolles gesehen wie diese Spardose mit dem dezenten Schlitz. Der Kontrast macht’s. Daneben ein ebenso prächtiges Messingschild: Zur Rettung der Umwelt Ägyptens. In sechs Sprachen. Und tatsächlich lag in der Pyramide ein Haufen dieser ekelhaft abgegriffenen Geldlappen, die man ja nicht ausführen durfte. Ich hatte das Ding einen Müllschlucker genannt: Zur Rettung unserer Gesundheit. Nichts wie rein mit dem Geld!

Die Touristenpolizei, die im Flughafen herumstand, hatte das zum Glück nicht mitgekriegt. Dafür schien sie selbst mir um so sehenswerter: In ihren olivgrünen Uniformen, Material Pferdedecke, an denen da und dort die Nähte aufgeplatzt waren, wirkten sie so besonders vertrauenerweckend. Einem der Polizisten fehlte am rechten Schuh über der kleinen Zehe ein markstückgroßes Stück Leder. Doch wo es noch vorhanden war, das schwarze Leder, da war es tadellos blankgewienert, genau wie das brüchige Koppelzeug. Ich war versucht, den erbärmlich Uniformierten gleich ein Bakschisch zu geben. Aber einem Polizisten Geld in die Hand drücken? Für mich ein unmöglicher Gedanke. Und der vorletzte Kugelschreiber von dem ganzen Bündel, das ich mitgenommen hatte, war ja schon verschenkt.

Unvergesslich das erschreckende Kloerlebnis auf dem Flughafen von Assuan. So dringend musste ich mein Geschäft erledigen, obwohl ich in der primitiven Kabine mit dem Klo kein Fetzchen Papier sah. Wie vermisste ich da die Kloschüsseln in der Türkei, die mit einem Extraröhrchen zur gezielten Reinigung einen dünnen Wasserstrahl lieferten, und auf dem Hocker neben einem lag zum Trockenwischen ein Stoß Stoffläppchen, die dann in das Körbchen für schmutzige Wäsche geworfen wurden. Wie oft hatte ich schon gesehen, wie auf den Balkons die bunten Läppchen an der Wäscheleine einem fröhlich zuwinken. Aber in dieser ägyptischen Flughafentoilette war nichts Brauchbares, absolut nichts. Doch nach der Erledigung plötzlich diese Überraschung: Von rechts hinten kam ein nackter Arm durch die Wand, in dem Halbdunkel der engen Kammer als ein Frauenarm zu erkennen, und der Arm hielt neben mir ein Blatt Klopapier in der Hand, das ich dankbar, aber wortlos entgegennahm. 

Abflug von Assuan in einer weiten Schleife über den Nasser-Stausee. Da lag das Wasser unter uns, das regelmäßig einmal im Jahr das Land überschwemmt hat, früher. Und das seit Jahrtausenden. Inzwischen weiß man Einiges, sagt es aber nicht, über dieses persönliche Prestigeobjekts von Staatspräsident Nasser. Die Nachteile dieser gigantischen Flußregulierung überwiegen die Vorteile. Das Land trocknet aus, die nicht mehr überschwemmten Äcker bringen immer weniger Ertrag, trotz immer stärkerer Verwendung von Kunstdünger, und dabei wird der Stausee nie richtig voll, die Energiegewinnung bleibt was Halbes. Doch wenn nicht darüber gesprochen wird, dann ist auch diese Erkenntnis schon wieder vergebens. Die großen Menscheitserfahrungen bleiben allzu oft große Geheimnisse, bloße Peinlichkeiten. Dabei könnten sie die Menschen in vielen anderen Ländern, wie in China und in Rußland und Afrika noch vor manchem Prestige-Großprojekt bewahren, das ihnen mehr Schaden als Nutzen bringt. Aber wenn ich schon nicht den Mund aufmache? Aus lauter Freundlichkeit.

Das Elend der Fliegerei. Man kommt mental nicht mit. Viel zu schnell aus Oberägypten zurück in der Hauptstadt. In Kairo ein Polizist mitten auf der Straße. Ich sehe ihn noch vor mir. Unser Busfahrer gibt ihm einen energischen Wink, und der Mann springt um sein Leben. Und ein Aufatmen: Er erreicht noch soeben den Bürgersteig. Hier bleibt einfach kein Platz mehr für einen Uniformierten, wo die Wagen sich blecheng aneinander vorbeischieben.

Vor dem Hauptbahnhof von Kairo sahen wir die schon in Memphis angekündigte vierte Ramsesstatue stehen. Sie steht da und äugt langhalsig über die Fahrbahn der Hochstraße, als wollte der Pharao persönlich den Reifendruck der Autos kontrollieren. Dabei haben seine Landeskinder von heute ganz andere Sorgen als den richtigen Reifendruck. Etwa die, wie man aus den deutlich aufgemalten drei Fahrspuren die erforderlichen vier bis fünf Spuren herausquetscht.

Wenn die Ägypter sich unterhalten, dann mit viel lautem Lachen, mit Geschrei und furchterregend gebleckten Gebissen. Wobei es ein sonderbares Ritual gibt: Jeder weiß genau, wann der andere dazu bereit ist, ihm in die Hand zu schlagen. Schon setzt er an, seine Hand hinzuhalten. Klatsch, und man hat gezeigt, wie gut man sich versteht. Oder hat der andere angefangen, der, der zum Schlag ausholte? Ein auch bei mehrfacher Beobachtung nicht eindeutig zu klärender Vorgang. Hauptsache: Einig.

Ist Ägypten eigentlich noch ein unterentwickeltes Land? In einer Hinsicht gewiß: Ägypten ist noch im Spuckzeitalter. Somit etwa achtzig Jahre hinter uns zurück. Damals waren auch bei uns noch die Bürgersteige bespuckt, und überall standen die Spucknäpfe herum. Im Museum in Kairo selbstverständlich viel Großartiges. Aber viel erstaunlicher die kleinen Überraschungen am Rande: Im Grab Tut-ench-Amuns waren unter lauter wichtigen Dingen auch Bumerangs als Jagdwaffen zu sehen. Da war man plötzlich nach Australien umgeleitet. Und gleich darauf in unsere eigene Vergangenheit: Hofzwerge als Spielfigürchen. Diese Herumreiserei – wenn man sich dabei aufmerksam umschaut, läßt sie einen schwindelig werden, weil die in der Schule gelernten festen Bezüge schwinden.

Das berühmte Kairoer Museum als Rumpelkammer zu bezeichnen, wäre durchaus nicht übertrieben. Dabei bemüht man sich höheren Orts um Verbesserungen. An vielen Vitrinen im Obergeschoß waren die Brettchen erneuert worden. Die an der Front unter den Glaskästen. Da hockten nun fleißige Männer auf dem Boden, mit Schmirgelpapier in den Händen, und rieben und rieben die Brettchen glatt, zur höheren Ehre ihrer Vorfahren und ihres Landes. Und eine Aufseherin saß auf ihrem Stuhl mitten im Gang und ließ den müden Blick nicht von den Arbeitern. Kaum vorstellbar, wo die Aufseherin und die Männer herumlungern müßten, wenn die Schreinerei geschliffene Brettchen geliefert hätte statt der rohen.

Die Schaukästen fast so alt wie die Ausstellungsstücke, so schien mir. Die glorreiche Erfindung Spotlights war bis dorthin noch nicht vorgedrungen. Hatte man Glück, dann leuchtete gerade einer der vielen lizensierten Führer mit seiner kleinen Taschenlampe in den Schaukasten hinein, und man sah im Funzellicht sogar Einzelheiten. Wie sagte neben mir ein Tourist bei unserem mühsamen Versuch einer Besichtigung der im Museum abgestellten Kostbarkeiten: Ein Jammer, daß Napoleon nicht alles mitgenommen hat. Dann könnten wir uns jetzt in Paris alles richtig ansehen.

Wenn man die Herren von der Touristenpolizei betrachtete, die dort im Museum herumstanden, verstand man auf einmal, daß die Gestalt des braven Soldaten Schweyk in Ägypten erfunden worden sein muß. Wie sie obeinig in Habachtstellung dastanden, wie versteinert, und einen plötzlich überraschten, wenn sie mal wieder das Maul aufrissen: Zu einem grandiosen Jahrtausendgähnen.

Dieses großflächig Plakative der Gesichter, das mir die Statuen zeigten, ich dachte zunächst, das liege an der Härte des Materials – kaum feiner zu bearbeiten -, aber in Kairo begegnen einem die auffälligen Frauengesichter aus den Vitrinen auch auf der Straße. Ja, der Typus ist sich gleichgeblieben, von nur ausdrucksstark bis zu aufdringlich schön, wenn auch sonst nichts mehr übriggeblieben ist von Glanz und Glorie des antiken Ägyptens.

Auf dem alten Friedhof von Kairo standen die Mausoleen beinahe Wand an Wand. Der ägyptischer Führer Khaled wollte uns partout nicht dorthin führen; erst nach mehrmaliger Aufforderung war er wenigstens bereit, uns mit dem Kleinbus quer durch das Friedhofsgelände fahren zu lassen. Auf einer richtigen Straße. Aber kein Aussteigen, kein Fotografieren, bat er verlegen. Wir verstanden dann auch schnell, warum: Die Mausoleen sind sämtlich bewohnt. Die Armen, die hier mit ihren Familien Unterkunft gefunden haben, sie haben alle eine Leiche im Keller – meist sogar mehrere. Wohnungsnot, und das trotz der das Umland überwuchernden Satellitensiedlungen. Wir hatten sie vom Flugzeug aus gesehen: Mietskasernen bis fast an die Pyramiden von Gizeh heran. Zum Genius loci passend die Erklärung unseres einheimischen Führers: Die ägyptische Bevölkerung wächst jedes Jahr um eine ganze Million. Von Geburtenbeschränkung, von Aufklärungsmaßnahmen kein Wort. Statt dessen der Friedhof als bewohnter Stadtteil. Eigentlich gar nichts Besonderes: Diese Friedhofssiedlung, sie sah nicht weniger verkommen aus als andere Hüttensiedlungen. Allenfalls ein bißchen prächtiger verkommen durch die vielen Säulchen, Schneckenkapitelle, Schmuckarchitraphe und Dreiecksgiebel.

Bei der Fahrt durch die Kairoer Innenstadt immer mal wieder Japan. Dort das Opernhaus und da eine Kinderklinik und so fort, immer wieder hieß es: Von den Japanern erbaut. Und das in soundso wenigen Monaten. Fünfmal am Tag, zu ständig etwas anderer Zeit, scheinen sich wie an Lianen die zum Gebet rufenden Muezzins durch die Straßen der Stadt zu schwingen: An dem Kabelgewirr und den riesigen Lautsprechern vor den Häuserfronten. Sie erinnern unüberhörbar an die andere Dimension des Lebens. Ob es mehr nützt als der Glockenlärm in unseren Städten?

(Lesen Sie mehr über Ägypten in meinem Buch “Odyseus’ Dilemma“, netzine.de/edition, Mannheim 2001, Paperback 348 Seiten, 14.75 Euro, ISBN 3-00-004700-X)

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