In Israel angekommen – oder? (1992)

Der internationale Flughafen Israels ist der von Tel Aviv, mußte ich als erstes lernen. Denn den Jerusalemer Airport fliegt keine Gesellschaft an, weil die Umgebung der Stadt als besetztes Gebiet einen ungeklärten Status hat. Dort könnte es durchaus passieren, daß mal ein Heckenschütze seine Flinte hebt und auf einen Jet schießt. Deshalb sind auch alle Botschaften in Tel Aviv und nicht in der Hauptstadt Jerusalem. Tel Aviv heißt soviel wie Alt-Neu-Stadt, weil es auf Ruinen aus grauer Vorzeit ganz neu erbaut wurde. Es sei das die einzige rein jüdische Stadt in Israel, ergriff prompt Dina das Mikrophon und das Wort, die einheimische Führerin, weil die Palästinenser, die dort wohnten, bei der Teilung Palästinas im Jahre 1948 weggezogen seien. Weggezogen, das hörte sich so schlicht und plausibel an, daß man nicht einmal darüber lachen konnte. Mit den Worten Sabbat Schalom hatte sie uns begrüßt. Und weil wir am Sabbat nichts Besseres unternehmen konnten, starteten wir sofort am ersten Tag zu einer Fahrt nach Jerusalem hinüber.

In den Vororten von Tel Aviv sah es unübersehbar arabisch aus. Kleine Restaurants mit arabischen Reklameschildern, die trotz der Sabbatruhe geöffnet hatten. Eines Tages werden die Israelis soweit sein, daß sie es sehr praktisch finden, daß ihre arabischen Volksgenossen den Freitag statt des Samstags feiern; wie in New York, wo man am Sonntag ins Judenviertel fährt, um endlich einmal in Ruhe einkaufen zu können.

Auf den Autobahnen des Landes Geschwindigkeitsbeschränkung: 90 Km/Std., wohl damit man nicht aus Versehen über die engen Grenzen hinausrast. Obwohl man wenig Alkohol trinkt, so hörten wir, gibt es wegen überhöhter Geschwindigkeit sehr viele Unfälle. Aber auch durch die plötzlich einsetzenden Regenfälle. Israel hat bereits jetzt mehr Verkehrsopfer zu beklagen als es Tote gab in allen seinen Kriegen mit den arabischen Nachbarn, erklärte Dina. So relativiert der Verkehrsbericht die Historie.

Und dann die Vögel. Ja, auf dem Weg von Tel Aviv nach Jerusalem begegneten uns in langezogenem Schwarm Hunderte von Störchen, die auf dem Weg zurück nach Europa waren. Das war kurz vor Ostern. Entlang dieser Straße verläuft ein Warmluftgraben, hatte man festgestellt, den die Vögel ausnutzen. Mandelbäume am Rand der Straße, weiß-rosa blühend, dazwischen rostrote ausgebrannte Panzerfahrzeuge, gelegentlich mit der Aufschrift 29. 2. 1948. Die Relikte der schweren Auseinandersetzungen mit den Palästinensern um diesen wichtigen Zugang nach Jerusalem. Das war in der Zeit zwischen der Entscheidung der Vereinten Nationen über die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Teil und der Staatsgründung Israels im selben Jahr, erläuterte Dina. Die Wracks bleiben als Denkmäler dort liegen. Dabei gab sie uns zu bedenken, daß auch heute ein Teil der Araber in Israel wohne und dessen Staatsangehörigkeit habe. Israel bestehe nicht nur aus Juden, und schon gar nicht nur aus frommen Leuten, sagte sie. Lediglich 15-18 % der Israelis seien als religiös gebunden anzusehen. Und die Frommen wiederum seien in viele Schattierungen des Religiösen aufgesplittert.

Den schönsten Blick auf Jerusalem hatten wir von Süden her, von einem hohen Hang aus, in den ein Selbstbedienungsrestaurant hineingebaut war. Auf der Terrasse darüber ein Trompeter, der sehr passend O sole mio blies, während die Sonne gerade über den Tempelberg strich und die goldene Kuppel des Felsendomes dramatisch aufblinken ließ. Eine geradezu amerikanische Inszenierung. Amerikanisch auch der Name der Terrassenanlage: The Walter und Elise Haas Promenade, so stand es sechs Meter lang in eine eigens dafür aufgestellte Steinmauer eingemeißelt. Besonders eindrucksvoll, wenn man gerade eben erst am Jaffa-Tor die winzig kleine Anlage gesehen hatte, die mit dem Namen David Rose Garden auftrumpfte. Da wurde klar: Das ist nicht amerikanisch, das ist jüdisch. Der Name ist das individuelle Kleid des Ichs. Deshalb ist er so wichtig. Ich war schon am ersten Tag auf den jüdischen Namenskult gestoßen. Auf dem weiteren Weg durch das Land sollte ich noch viele Male darüber stolpern – und an den gleichartigen Namenskult in den sozialistischen Ländern erinnert werden. Da berühren sich also in den extrem gegensätzlichen Systemen die gemeinsamen Ursprünge, ging es mir durch den Kopf. Oder sind sie gar nicht so gegensätzlich? Und ich dachte an berühmte jüdische Kommunisten neben und nach Karl Marx – und hielt mich vorsichtshalber zurück. Vermintes Gelände.

Der weite Platz vor der Klagemauer war erst nach dem Sechs-Tage-Krieg durch die Beseitigung der Bebauung geschaffen worden. Hoch über ihm thronte jetzt auf einem Haus ein modernistisches Glas-Edelstahl-Denkmal, mit Gasflammen und mit der hebräischen Aufschrift: Gedenket. Das Privatmahnmal eines reichen Juden, der sich gegen alle Einwände der Stadtverwaltung durchgesetzt hat mit seiner Erinnerung an die Millionen von den Nazis getöteten Juden. Noch höher darüber, zur anderen Seite hin, ein monströses neues Gebäude, das aus dem Film Metropolis zu stammen schien: Die Akademie einer der streng religiösen Splittergruppen. Vor der Klagemauer waren durch schlichte Seilabsperrungen zwei Open-Air-Synagogen nebeneinander geschaffen worden, links für die Männer, rechts für die Frauen. Die Herren waren auch noch in den Gewölben des alten Gebäudes zu finden, das sich seitlich anschloß. Im schwarzen Kaftan, ins Gebet versunken oder leise vor sich hin singend und nur gelegentlich herüberschielend, bot man dem Publikum ein pittoreskes Bild traditioneller Frömmigkeit. Meist sich nach vorne verneigend, manchmal aber auch seitlich schaukelnd. Es betet sich offensichtlich leichter, es schwingt sich behender, wenn nicht nur Gott zusieht, sondern auch noch die bunte Schar der Gaffer aus aller Welt, alle mit provisorischer Kopfbedeckung versehen: Pappdeckeln. Eine exhibitionistische Frömmigkeit, die einem Gott gefallen mochte, den ich mir gut vorstellen konnte. Als wir die Klagemauer verließen, auch die Vorleser davor, die mit theatralischer Gestik aus großen Torarollen zitierten, dröhnte plötzlich über das individuelle Gemurmel und Gesinge stadtviertelweit die Lautsprecher-Einladung des Muezzins zum Gebet. Dezibelmächtig, unüberhörbar. Die Konkurrenz um Gottes Ohr schien mir damit schon entschieden.

Dann im jüdischen Viertel die Jungen, die mit dem Schabbesdeckel auf dem Kopf, mit einer Klammer befestigt, so wild Fußball spielten, wie überall. Und die Mädchen, getrennt davon, die beim Seilspringen waren. Die Zugehörigkeit zu den verschiedenen religiösen Gruppen erkennt man an den Kopfbedeckungen, erfuhren wir von Dina. Aha, je aufwendiger das Gehirn eingepackt wird, um so strenger der Glaube, kommentierte das eine Touristin  für mich im Flüsterton.

Bevor wir ins jüdische Viertel gekommen waren, alles sehr schön restauriert dort, sehr ordentlich, ein Gang durchs Basargewühl, durch das alte palästinensische Stadtviertel, das erst nach dem Sechs-Tage-Krieg israelisch wurde. Da stand beherrschend am Ende einer quirligen Straße, alles überragend ein hohes Haus, das sich der Minister Scharon gekauft hatte. Auf das Dach seines Hauses hat er einen riesigen neunarmigen Leuchter montieren lassen, einen Chanukkaleuchter. Für die Israelis ein Hinweis auf eines ihrer schönsten Feste, für die Araber natürlich eine ungeheure Provokation, meinte Dina achselzuckend.

Zurück nach Tel Aviv. Die prächtigen weißen Häuser Jerusalems blieben hinter uns. Alles aus Naturstein, dem hellen Kalkstein der Gegend. Wie es ein Gesetz vorschreibt für alle Bauten innerhalb Jerusalems. Die Stadt ist zwar arm, aber stein-reich, und diese Vorschrift gibt den Arabern Arbeit, so erläuterte Dina das.

(Lesen Sie mehr über Israel in meinem Buch “Odyseus’ Dilemma“, netzine.de/edition, Mannheim 2001, Paperback 348 Seiten, 14.75 Euro, ISBN 3-00-004700-X)

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