Here we go – in Kanada (1991)

Zum Beispiel die Rockies, dieses so aufregend zelluloidintensive Landschaftserlebnis. So rosenstolz und abweisend die Wälder, so orchideenbizarr die Felsen, die Schneespitzen so lilientriumphierend, die Flüsse wie endlose Gänseblümchenwiesen, Stunde um Stunde ohne eine Brücke, und immer wieder diese verwunschenen Vergißmeinnichtseen.

Doch keine Möglichkeit, hineinzugehen in die Landschaft. Da waren keine Wege von der Straße weg. Da waren nur Schilder, die vor Bären warnten und vor Waldbränden. Meile um Meile vorbei an heruntergebrannten Wäldern. Schwarzstachelige Endzeitbilder. Und die großen Müllcontainer auf den Parkplätzen waren dicht verschlossen und nur zu öffnen, indem man durch eine Höhlung griff und dort eine Taste drückte. Ein Patent, das über die Geschicklichkeit der Bärentatzen hinausging. Überlegen, diese Kanadier. Warnhinweise sagten uns: You are in Bear Country. Da gab es Prospektblätter mit aufgemalten Fußspuren vom Schwarzbär und vom Grizzlybär, damit man ihnen besser aus dem Weg gehen könnte. So ein Quatsch, so ein Widersinn: Wo Spuren sind, da sind sie gegangen, und wenn sie gegangen sind, dann gehen sie also im Moment nicht. Tolle Tips wie: Nachts sollte man gelegentlich sein Blitzlicht benutzen, das schreckt sie ab, den Hund sollte man zuhause gelassen haben, und auf seine Frau sollte man achten, sie zu bestimmten Zeiten im Auto eingeschlossen halten, alle Scheiben hoch, weil menstruierende Frauen für Bären besonders attraktiv sind. Wenn man von einem Grizzly angegriffen werde, sollte man auf einen Baum klettern oder sich auf dem Boden zusammenkugeln und Toter Mann spielen. Bei einem Schwarzbär sei allerdings der Baum keine Rettung, weil der Bär ein guter Kletterer sei, und das Sich-Tot-Stellen habe meist auch keinen Erfolg, außer der Verwirklichung des Spiels. Aber auf Bären schießen dürfe man keinesfalls. Sie stünden unter Naturschutz. Ja, wenigstens die Bären. Da war die Frage aufgekommen, wie man den Grizzlybär vom Schwarzbär unterscheiden könnte, wenn man keine Fußspuren gesehen hat.

Da hatte ich immer wieder an Bayern gedacht, hatte geglaubt, Almhöfe an den Berghängen zu sehen und auf dem See neben der Straße einen Bootsverleih. Und hatte auf einmal den Werbespruch auf den Lippen: Wanderbares Österreich. Da wußte ich: Hier bin ich falsch, hier gibt es ja nur Natur. Wofür habe ich mich all die Jahre abgemüht, über meine Natur hinauszukommen? Hier in Kanada bin ich so falsch wie die Blumistik der Sprache, für die ich mich vorhin noch begeistert habe. Denn erst wenn alle Tiere ausgerottet sind, die dem Menschen gefährlich werden können, die letzten Giftschlangen da untergebracht, wo sie hingehören, in Aquarien und Terrarien, wenn die Bäume ihre Wanderzeichen tragen wie Orden, wenn die Lawinenhänge gesichert, alle Quellen sauber eingefaßt, und die Bergbäche kanalisiert, die Flüsse begradigt sind und so fort, ist die Natur für uns Touristen erlebbar. Dann können sie auch hier ihre Eifelvereine oder Alpenvereine und Sauerländischen Gebirgsvereine gründen und mit Recht den Ausspruch tun, den sie immer und überall anbringen: Here we go. Das war ein erschreckendes Heureka. Das war eine Erkenntnis, die einen schweren, dunklen Schlagschatten auf meine eigentlich doch grüne Seele warf.

Ein Andenkenladen an der Stelle, wo die Eisenliane der Canadian Pacific Railway vollendet worden war. Wo die Arbeiter, die sich von Osten vorgearbeitet hatten, auf die stießen, die im Westen angefangen hatten, eine Schneise in den Wald zu schlagen, eine Trasse zu bauen, Schwellen und Schienen zu verlegen. Was ein völlig abwegiger Gedanke gewesen sein soll. Dann plötzlich als die bahnbrechende Idee propagiert: Here we go! Schließlich ein vielgefeiertes Jahrhundertwerk. Eine Eisenbahnverbindung zwischen der Atlantik- und der Pazifikküste Kanadas. Von den Hunderten von Todesopfern unter den schlechtbezahlten und schlechtest untergebrachten Eisenbahnarbeitern sprach kein Mensch. Man war sich einig: Der Weg in die Zukunft kann nur mit Opfern erkämpft werden. Für die unbekannten Opfer war die Zukunft weglos beendet. Und was für einen langen Weg sie hinter sich gebracht hatten. Die meisten von diesen armen Teufeln sollen Chinesen gewesen sein. Doch hundert Jahre nach der triumphalen Fertigstellung des Jahrhundertwerks Canadian Pacific Railway liegt der Schienenstrang wie tot da. Nur hin und wieder noch ein Zug. Auto und Flugzeug sind beliebter. Also war es doch ein abwegiger Gedanke, diese Bahn von Küste zu Küste zu bauen.

Es ist kein Verlaß auf menschliches Planen. Und ob Götter zuverlässiger wären in ihren Planungen, das ist noch die Frage. Der Spruch ist viel zu euphemistisch: Der Mensch denkt und Gott lenkt. So die Überlegenheit des göttlichen Handelns zu betonen, das kann nur einem Sehgestörten eingefallen sein. Er hätte sich die griechische Göttergesellschaft ansehen sollen, das hätte ihm die Augen geöffnet.

Fort Steele hieß das Nest in British Columbia, ein ehemaliges Goldgräberstädtchen am Kootenay River. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kam seine Stunde. Da leuchtete ihm eine goldglänzende Zukunft. Die Gleise der Canadian Pacific sollten über seinen Boden führen, ein Bahnhof sollte Fort Steele mit der großen, weiten Welt verbinden. Was für eine Aufregung. Da wurden die Häuser plötzlich immer zahlreicher und immer größer, immer prächtiger. Da wurden Hotels gebaut und sogar Theater. Man machte sich schick in Fort Steele. Das war doch endlich ein Leben, wie man es sich gewünscht hatte. Männer mit Unternehmungsgeist traten auf und junge Frauen mit auffallend hübschem Aussehen. Da war der Ortsfotograf gut beschäftigt. Doch zwei Jahre vor der Jahrhundertwende fiel dann die Entscheidung: Nicht Fort Steele wird Eisenbahnstation, sondern ein Nachbarort. Wie hieß er noch gleich? Egal. Ein Dutzend Meilen entfernt, gerade nur ein läppischer Tapser weiter auf der Landstraße. Aber weit genug weg und nah genug zugleich, Fort Steel die Luft abzuschnüren. Plötzlich gab es keine Theaterzettel mehr, gab es nichts mehr zu investieren, nichts mehr zu fotografieren in Fort Steele. Das Städtchen verdorrte auf dem Halm, wurde vom Zeitwind plattgedrückt, verfaulte. Und das so gründlich, daß es in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts nichts mehr zu restaurieren gab, als man daranging, aus Fort Steele ein Freilichtmuseum zu machen. Es mußte ganz neu aufgebaut werden. Wiederum für nichts. Here we go.

(Lesen Sie mehr über Kanada in meinem Buch “Odyseus’ Dilemma“, netzine.de/edition, Mannheim 2001, Paperback 348 Seiten, 14.75 Euro, ISBN 3-00-004700-X)

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