724. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Kein gesunder junger Mensch sprengt sich in die Luft, obwohl er von der dadurch veränderten Situation nichts mehr hat. Kein Mensch tut so was Endgültiges für nichts. Neben der Hoffnung auf das Paradies, den nur wirklich Gläubige haben, lockt natürlich die Bedeutung als Held, die das Ich bekommt. Darauf kann der Terrorist sich verlassen, weil die Presse ihn mit vollem Namen und Foto weltweit bekannt machen wird. In der Branche kennt man ja keine taktische Selbstbeschränkung.

 

Mäuse gehören zu den bedauernswertesten Kreaturen, weil sie bei viel zu vielen Tieren auf der Speisekarte stehen, dabei ungeschützt und ziemlich wehrlos sind. Sie können sich nur damit helfen, dass sie sich besonders eifrig vermehren. Ein Glück, dass uns Menschen die meisten Mitmenschen nicht schmecken, sonst würde die Erdbevölkerung noch schneller wachsen.

 

Es gibt Menschen, die sich vom Tier zu unterscheiden versuchen, indem sie die Notwendigkeiten, die wir mit den Tieren gemeinsam haben, beispielsweise das Essen und Trinken oder auch das Sexualverhalten, zu kultivieren versuchen, siehe Haute cuisine, Sommellerie oder Kamasutra. Sie übersehen dabei, dass der einzig wirkliche Unterschied zum Tier das Bewusstsein ist, das sich in Sprache ausdrückt. Aber das zu kultivieren, dazu gehört weit mehr als der Kauf des neuesten Kochbuchs oder Sexlexikons.

 

Ich gehöre zu der Kategorie Freiberufler, neben Anwälten, Ärzten, Steuerberatern und dergleichen, bin in dieser Gruppe aber eine Kuriosität, weil es mir als Künstler nicht nur darum geht, Geld zu scheffeln. Jetzt haben auf einem Sexarbeiterkongress in Hamburg die Prostituierten die Forderung erhoben, sie endlich als Freiberufler anzuerkennen. Das würde Farbe in unseren Bund der freien Berufe bringen. Und die Neuen würden gut zu mir passen, prostituiert doch auch der Künstler sich in seiner Arbeit, unvermeidlich.

 

Zugegeben, es gibt Wichtigeres, doch bleibt es peinlich: In den Todesanzeigen für den ehemaligen Außenminister Guido Westerwelle wie für den ehemaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth wieder diese Degradierung als Außenminister a. D. und Ministerpräsident a. D.  Dabei ist die Bezeichnung a. D. (außer Dienst) der nach Beamtenrecht geschützte Titel für ehemalige Beamte, also Staatsbedienstete. Aber Ministerpräsidenten, Kanzler, Bundespräsident und Minister sind nie im Dienst, sie sind Staatsorgane und nicht Beamte, sie haben bloß Beamte unter sich. Deshalb ist ein verstorbener Minister, Kanzler, Bundespräsident oder Ministerpräsident immer der ehemalige oder Ex-Minister, Ex-Kanzler, Ex-Bundespräsident oder Ex- Ministerpräsident.

 

In dem Standardwerk „Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt“ des Duisburger Germanisten Ulrich Ammon heißt es, Englisch spiele im Zuge der Globalisierung eine zunehmend größere Rolle – und verdränge das Deutsche aus Bereichen wie Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Dabei sprächen rund 289 Millionen Menschen Deutsch, zuzüglich der 103 Millionen deutschen Muttersprachler. Darunter seien allein 7,5 Millionen aus den deutschsprachigen Minderheiten in 42 verschiedenen Nationen, wie in Brasilien mit 1,1 Millionen oder in der Dominikanischen Republik mit 30.000. Doch trage Deutschland selber entscheidend zu einem Abbau der Landessprache bei, beispielsweise durch Anglisierungen innerhalb der Hochschulen und Unternehmen. Diese Entwicklung führe aber auch zu einer steigenden Zahl deutscher Arbeitnehmer im englischsprachigen Ausland. Einen Lichtblick, um den Sprachverlust zu stoppen, sieht Ammon in der Einwanderung von Flüchtlingen und Jugendlichen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen und deshalb Deutsch lernen müssen.

 

Sogar noch im 21. Jahrhundert ist in vielen Ländern der König für breiteste Bevölkerungsschichten das Objekt höchster Verehrung. Kein Gedanke daran, dass das Königtum errichtet wurde und auch nur erhalten wird für die Machtgelüste eines Einzelnen (und seiner Familie), bezahlt mit ungeheuer viel Steuergeld und mit dem in vielen Kriegen vergossenen Blut des Volkes.

 

Unterhaltung ist das Gegenteil von Kunst und gehört zu unseren Lieblingsspeisen, weil sie ein köstliches Sättigungserlebnis bietet, im Moment. Doch nur wer auf den Gehalt an Fettsäuren, Kalorien, Vitaminen und künstlichen Zusätzen achtet, ernährt sich wirklich gesund. Die Kunst ist, bei Werken der Unterhaltung diese Komponenten zu entdecken, weil sie nicht auf der Verpackung ausgewiesen sind.

 

Lesen oder nicht lesen, das ist die Frage. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden hat festgestellt, dass 18- bis 29-Jährige am wenigsten lesen, nämlich nur anderthalb Stunden in der Woche, während Rentner mit sieben Stunden in der Woche am meisten lesen. Da fehlte nur der Hinweis, dass lesen und lesen nicht immer gleich ist. Das Statistische Bundesamt hätte ergänzen können: Angesichts der geringen Chance der Bürger, über hundert Jahre alt zu werden, wird von Jahr zu Jahr wichtiger, wie gehaltvoll das ist, was man liest. Dabei auf meine Bücherliste hinzuweisen, wäre richtig gewesen, konnte ich aber – bescheiden, wie ich bin –  nicht erwarten.

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