687. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Das – mit Recht – todernste Gerangel um die Zulässigkeit von Sterbehilfe zeigt erneut, wie dringlich es ist, die Idee Demokratie weiterzudenken. Denn es gibt vom Anfang bis zum Ende des Lebens Bereiche, die so persönlich sind, dass auch eine perfekt umgesetzte demokratische Mehrheitsentscheidung fehl am Platze wäre, weil der Staat sich aus diesen Dingen herauszuhalten hat. Sonst würde der Gesetzgeber demnächst auch noch darüber bestimmen, ob der eheliche Koitus am Wochenende a tergo oder in Missionarsstellung zu erfolgen hat.

 

Die Stadt Mannheim, als bedeutende Industrie- und Handelsstadt längst von den vorderen Plätzen abgerutscht, aber Universitätsstadt, hielt sich für besonders klug, als sie für ihre Zukunft nicht auf Geistiges setzte, sondern auf Musik. Weil Musik unverbindlich ist und immer ankommt. Als modische Ikone bot sich der Soul-Sänger Xavier Naidoo mit seiner Band „Söhne Mannheims“ an. Die Symbiose funktionierte viele Jahre lang, tat dem Sänger und seiner Truppe gut, und Mannheim schmückte sich schon mit dem Titel Musikstadt. Doch jetzt ist die Ikone Xavier Naidoo gleich mehrfach mit rechtsradikalen Aussprüchen aufgefallen, und die plötzlich nackt dastehende Musikstadt Mannheim musste mit Entsetzen feststellen, dass Musik nicht nur mit Geräusch verbunden ist und dass leistungsfähige Stimmbänder weniger wert sind als gut besetzte Gehirnwindungen.

 

Im ADAC-Heft „Motorwelt“ beharken sich die Leser in ihren Briefen an die Redaktion wegen der vielen Geländewagen, die gekauft werden. Die einen halten das für Größenwahn und bloße Angeberei, die anderen weisen auf ihre Rückenprobleme hin und auf die bequemere Sitzposition, ganz abgesehen von dem schwierigen Ein- und Aussteigen bei den immer flacher werdenden Personenwagen. Ich wundere mich schon lange darüber, dass die Autohersteller nicht bemerken, dass die jungen Leute immer größer und auch immer massiger werden. Da wird die Windschnittigkeit des Wagens mindestens drittrangig.

 

Waffentechnik im Wandel. Als die Vorderlader allmählich von den ganz anders effektiven Hinterladern verdrängt wurden, sah es schlecht aus fürs Überleben.

 

Lehrer geben zu, dass ihnen in Computerdingen manche Schüler überlegen sind, weisen aber darauf hin: Da wächst eine junge Generation heran, die glaubt, mit dem Smarty in der Hand alles im Griff zu haben. Überm eifrigen Aufrufen und Herunterladen von Informationen und dem Pflegen von oberflächlichen Kontakten kommt sie nicht mehr zum Durchdenken von Fragen und ist kaum noch in der Lage, einen eigenständigen Text in gutem Deutsch zu verfassen. Da hilft dann auch das Smarty nicht mehr weiter.

 

Das Angebot an Obst wird immer größer und immer vielfältiger. Früchte mit Namen, die oft kaum aussprechbar sind. Das Paradies, das all das enthalten hat, muss riesengroß gewesen sein, weil es alle Klimazonen umfasst haben muss. Deshalb können wir die Suche nach dem Land, in dem das Paradies gelegen haben könnte, als unsinnig aufgeben. Das Paradies war offenbar überall – falls es überhaupt einmal war.

 

Zu der großen Gruppe untergegangener Wörter wie Kranzgeld, Tretroller, Bartbinde, Bergfex, Eisblume und Tanzkärtchen kommen immer neue hinzu, so z. B. die Stoßstange und der Turnschuh oder der Gebildete und die Friedfertigkeit. Doch nur wenige Verluste bedauern wir.

 

Sitzen ist nicht gleich sitzen, konnte ich jetzt im heillos überfüllten ICE erfahren (im wahren Wortsinn). Wenn die Zeit so langsam läuft für die Mitmenschen, die neben einem stehen, ein bisschen abgestützt an einer Sitzlehne oder ihrem großen Koffer, dann verändern sich die Gesichter  und Haltungen der Sitzenden. Da gibt es die sture Gleichgültigkeit, und es gibt das Augen-Zu. Daneben aber bemerke ich das Herumrutschen auf dem Sitz, dem Neid erregenden, das gequälte Sich-Vorlehnen und das überinteressierte Hinausschauen wie auch das Kleben am Taschenbuch oder der Zeitung. Und jeder Blickkontakt mit den Stehenden wird vermieden, weil er ein schlechtes Gewissen macht, aller Selbstberuhigung zum Trotz. Als Sitzender bedränge ich die Uhr jetzt schon genau wie die Stehenden: Lauf doch schneller, verdammt noch mal!

 

Was heißt hier liebliches Rheintal? Wenn ich die zackig schroffen Felsen sehe zwischen Koblenz und Mainz, wird mir Angst und Bange vor den unzähmbaren Kräften der Natur. Die Burgruinen da und dort und überall, wo es fast unzugänglich ist, die sprechen eine noch schroffere Sprache. Und die Regimenter von Weinstöcken in exakter Habachthaltung angetreten genau wie die Fronten von hell getünchten Häusern, die krampfhaft die Augen offen halten, und die Schiffe dazwischen, die nur wegwollen, sie alle scheinen den nächsten Überfall durch Störer der Idylle zu fürchten.

 

 

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