663. Ausgabe

Passiertes! – Passierte es?

 

Wen es nervt, dass er inzwischen zu den Alten gehört, der braucht sich nur auf eine der angebotenen sehr teuren Fernreisen zu begeben. Dann trifft er garantiert auf noch ältere Herumtreiber. Das relativiert sein Menschenbild, vor allem, wenn er dann hört, wie man inzwischen diese Variante des Tourismus nennt: EVR = Erbschaftsvernichtungsreisen.

Vor fünfzig Jahren reisten wir in die entferntesten Winkel Europas und tobten dort unsere Raffgier aus, indem wir Mengen von Farbdias kauften, perfekte Fotos von jeder Sehenswürdigkeit und von jedem schönen Stückchen Landschaft. Jetzt reisen wir in die entferntesten Winkel der Erde und toben unsere Raffgier in neuer Weise aus, nämlich indem wir jede Sehenswürdigkeit und jedes Stückchen schöner Landschaft, dazu die fremden Menschen und Tiere mit unseren Superkameras einfangen. Vermutlich werden sich in fünfzig Jahren unsere Nachkommen im Weltall – was anderes bleibt ihnen ja nicht übrig – austoben, indem sie die Bezeichnungen und sämtliche astronomischen Daten der entferntesten Sterne sammeln, ist doch die uns anerzogene Raffgier, was die Gegenstände betrifft, so herrlich flexibel.

Der Winzer in dem noch deutsch geprägten Dorf Omaruru in Namibia, nur dreißig Jahre lang unsere Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika, erwähnte im Gespräch, sein Deutsch genau wie das seiner deutschstämmigen Bekannten, die sich immer noch voller Stolz Südwestler nennen, verändere sich von Jahr zu Jahr, weil sie unbewusst immer mehr Wörter aus der Eingeborenensprache benutzten. Für mich eine interessante Bestätigung, dass es der deutschen Sprache im Kleinen genauso ergeht, wie den großen Kolonialsprachen Englisch, Spanisch und Französisch. Bei diesen hat die viel längere Kolonialherrschaft dazu geführt, dass es heute jeweils bis zu einem halben Dutzend verschiedene Sprachen in Englisch, Spanisch und Französisch gibt, was die Engländer, Spanier und Franzosen gar nicht freut. Das heißt: Herrschaft ruiniert – sogar die Sprache.

Die Bonobos in Zaire, eine Affenart, die uns nach neuesten Erkenntnissen – hoffentlich sind die nicht auch schon wieder überholt – noch näher verwandt sein sollen als die Schimpansen, die wir bisher als unsere Wald-Verwandtschaft begrüßen müssen. Die Bonobos haben 99 % aller Erbanlagen mit uns Menschen gleich. Das zwingt uns zu einem genaueren Blick auf diese Wesen, die auch als Zwergschimpansen bezeichnet werden, obwohl sie kaum kleiner sind als die anderen Schimpansen. Doch haben sie längere und schlankere Arme und Beine – na schön – und sollen viel individueller ausgeprägt wirken mit ihren menschenähnlich sprechenden Augen. Apropos, die Bonobos scheinen am Beginn einer höheren Sprachentwicklung zu stehen. In Experimenten hat sich gezeigt, dass sie sich Worte unsere Sprache merken können, wenn sie sie auch nicht sprechen, sondern nur einzelne Laute von sich geben können. Und sie sollen die einzigen Tiere sein, die sich im Spiegel nach einiger Irritation als Ich erkennen können. Dann muss ich sie also auch ohne Irritation als Du anerkennen.

Erschreckend, wenn ich mir klarmache, wie wir Menschen uns zu der hypertrophen Spezies entwickelt haben, die wir heute sind – auch zu unserem eigenen Leid. Vor sechs Millionen Jahren, als sich in der Gruppe der Primaten die Entwicklung von Mensch und Schimpanse trennte, gingen beide Arten noch von gleichen körperlichen Bedingungen aus. Sie hatten beide weniger als 500 Kubikzentimeter Hirnvolumen, und die Kiefer-Nase-Augen-Partie ihres Kopfes war fast doppelt so groß wie das Gehirn. Erst kommt das Essen, dann die Kultur. Ein bisschen später, vor anderthalb Millionen Jahren, hatte der Homo erectus bereits annähernd 1000 Kubikzentimetern Hirnvolumen, und die beiden Bereiche des Kopfes – Versorgung und Verstand – waren schon fast gleich groß. Dann aber kam vor rund 200 000 Jahren der Homo sapiens mit beinahe 1500 Kubikzentimetern Hirnvolumen daher, was fast doppelt soviel ist wie die Kiefer-Nase-Augen-Partie. Damit hat er den Affen weit hinter sich gelassen, – zumindest was die Raumverteilung im Kopf betrifft.

Die christlichen Kirchen suchen händeringend nach Wegen, wie sie die im breiten Publikum weit verbreitete Ablehnung der fortschreitenden Islamisierung der westlichen Gesellschaften als Wasser auf ihre Mühlen führen können. So naheliegend das erscheint, so unmöglich ist es, weil die Ablehnung der Leute gegen die Mythologien allgemein gerichtet ist und so Christentum und Islam auf derselben Seite stehen lässt. Dabei war die Aufklärung doch bloß ein Phänomen des Westens.

Jeder weiß, dass die Post immer weniger schnell und zuverlässig arbeitet, je dreister sie ihre Tarife anhebt. Doch macht sich niemand Gedanken über die Postbeförderung in früheren Zeiten. Gerade dass man sich noch an die Erzählung der Großeltern erinnert, dass vor dem Krieg die Post mehrmals am Tag ausgetragen worden sei. Sieht man weiter zurück, dann erstaunt schon im 17. Jahrhundert die Unterscheidung von Briefsendungen franco oder porto. Wobei franco hieß, der Absender zahlte das tariflich festgelegte Entgelt, porto hieß, der Empfänger zahlte. Es war dem Postkunden freigestellt, ob er seine Briefe so oder so versandte. In der Praxis überwogen die Sendungen porto, weil man auf diese Weise sicherstellte, dass die Briefe wirklich ankamen, da die Post sonst leer ausging. Doch manch einer, der viele Briefe von Bewunderern bekam, verfluchte die Sendungen porto, weil sie ihn viel Geld kosteten. Von Goethe ist bekannt, dass er immer mal wieder gebeten hatte, derartige Zusendungen franco zu machen. Goethes Ärger macht uns Heutigen den erst viel später geläufig gewordenen Pleonasmus frank und frei verständlich.

Bei den deutschen Bühnen wird eisern gespart. So müssen sich die Schauspiel- und Opernfreunde damit abfinden, dass berühmte Charaktere ihnen plötzlich fremd vorkommen: Falstaff fehlt der fette Wanst, der ihm bei seinem  Liebesbedürfnis hinderlich ist, was jedoch nichts macht, er kann sich ja andere Hemmnisse einbilden. Rigoletto fehlt der Buckel, was er sicher als einen Segen empfindet, wenn er auch seine Freude darüber nicht zeigen darf, weil er doch behindert bleiben muss. Othello ist zwar noch der Mohr von Venedig, aber völlig verblasst und so weiß wie alle anderen, weil die Farbe zu teuer ist. Die staatlichen Zuschüsse und die Eintrittspreise sollten spürbar erhöht werden, damit die Konsumenten von Edelkultur ihre Idole wiedererkennen können. Dann kann die Bayerische Staatsoper sich vielleicht auch einen echten Zwerg für die Titelrolle in Alexander Zemlinskys Oper „Der Zwerg“ leisten, statt diese Rolle einfach mit einem großen Sänger zu besetzen.

In Oberammergau einen Schnitzer kennengelernt, der nur noch Totenköpfe aus Holz herstellt. Darauf angesprochen, dass es ja nun wahrhaftig keinen Bedarf an Totenköpfen gebe, weil unsere Erde voll davon ist und täglich noch voller wird, erwiderte er: Die Kunst steht immer in Konkurrenz zur Natur und ist deshalb bemüht, sie noch zu übertreffen. Dabei schnitzte er schneller, immer schneller.

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Aktuell veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.