606. Ausgabe

Piratenpartei statt Wahlenthaltung. Bei der Berliner Abgeordnetenwahl vom 18. September gab es erstmals einen Anstieg bei der Wahlbeteiligung statt eines weiteren Rückgangs, wie bisher von Wahl zu Wahl üblich. Und dieses Plus an Wahlbeteiligung rechnet man der Piratenpartei zu, also einer Gruppierung, die verwegener klingt als sie ist. Noch kaum eine richtige Partei. Wenn das nicht eine schallende Ohrfeige für sämtliche anderen Parteien und ihre gestylten Politikerdarsteller ist.

Papst Benedikt XVI. auf Deutschlandbesuch. Als Staatsoberhaupt des Vatikanstaats eingeladen vom Deutschen Bundestag, vor dem er eine Rede halten wird. So kann sich jeder aussuchen, was ihn am meisten ärgert. Vom fehlenden Zivil des Besuchers und von der einseitigen Förderung einer Religionsgemeinschaft unter vielen sowie den gewaltigen Kosten der Reise über die Sperrung ganzer Stadtteile bis hin zu der Aufforderung an die Anwohner des päpstlichen Weges durch die besuchten Städte, zu bestimmten Stunden weder das Haus zu verlassen noch ein Fenster zu öffnen. Lateinisch: Suum cuique – der Papst bietet für jeden etwas.

In dem neuen Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg anderthalb Stunden lang die Bilder und Filmausschnitte von den Massenveranstaltungen gesehen, mit denen die Menschen im Dritten Reich zu exakt funktionierenden Ameisen gemacht wurden. Das Prinzip „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ in einen Rausch aus Marschtritten, Parolen, Lichteffekten, Uniformen, Musik und Fahnen umgesetzt. Da wird einem Vieles verständlich. Am Abend dann diese Überraschung, als im Hauptbahnhof plötzlich Fanfarenstöße die Leute aufschreckten. Ein paar von ihrem Auftritt auf dem Altstadtfest heimkehrende Bläser und Trommler zogen durch den Bahnhof, der ihr Spiel mit einem gigantischen Hall bereicherte. Sie waren in Landsknechtskostümen. So kurz der Auftritt war, vielleicht anderthalb Minuten, der Eindruck passte zu dem Erlebnis des Tages in der Reichsparteitagsdokumentation. Der Landsknecht vorne weg, der die Fanfare blies, er marschierte nicht in Stiefeln, sondern ging in hochgebogenen Schnabelschuhen, an dem Knöchel des einen Fußes ein Schellenband. Doch mit festem Schritt und Tritt, imponierend selbstbewusst und ohne einen Blick nach rechts und links, bestimmte er das Spiel der Männer hinter ihm, die das Fell der geflammten Trommeln schlugen, so verführerisch, dass man versucht war, sich ihnen anzuschließen. Der wilde Klang, er blieb im Kopf, hallte wieder und wieder nach, als die kleine Truppe längst verschwunden war.

Nach neuesten Statistiken werden in Deutschland 39 % aller Ehen geschieden. Diese Quote könnte man leicht reduzieren, wenn man die Ehepaare, bei denen der eine Teil so hartnäckig dem anderen Teil das Leben schwer macht, wie der andere Teil es ihm, nach Nürnberg schicken würde. Dort könnten sie an dem prächtigen Hochzeitsbrunnen das Gedicht lesen, mit dem der Nürnberger Schuhmacher und Dichter Hans Sachs (1494 – 1576) seine Ehefrau besungen hat und in dem es am Schluss heißt: „Sie ist mein Fürsprech und Erlediger, ist oft mein Ankläger und Prediger. Mein Frau ist mein getreuer Freund, oft worden auch mein größter Feind. Mein Frau oft mietsam ist und gütig, sie ist auch zornig oft und wütig. Sie ist mein Tugend und mein Laster, sie ist mein Wund und auch mein Pflaster. Sie ist mein Herzens Aufenthalt und machet mich doch grau und alt.“ Vermutlich hätte seine Frau ihn ganz ähnlich besungen, wenn sie ebenfalls gedichtet hätte. Doch hatte sie ja genug mit dem Haushalt zu tun.

In Deutschland gebe es inzwischen mehr Selbsttötungen als Verkehrstote, verrät mir die Presse. Leider ohne mir etwas über die Motive der Menschen zu sagen, die ihr Leben wegwerfen. So kann ich nur Vermutungen anstellen. Ist vielleicht der Geschlechtsverkehr noch gefährlicher als der Straßenverkehr? Weil ein TÜV fehlt?

Als ich ins Salzkammergut kam, begrüßten mich im Wind raschelnd riesige Maisfelder rechts und links der Straße. Mais soweit die Blicke trugen. Da kam es mir gleich auf die Lippen, das schöne Lied: Im Maisfeldergut da kann man gut, lustig sein …

Das kleine Heimatmuseum im österreichischen Bad Goisern kann einem das ganze Weltbild verändern, nämlich mit der so aufschlussreichen Darstellung der Deportation von Protestanten aus dem Salzkammergut nach Siebenbürgen, die  im 18. Jahrhundert in mehreren Schüben stattfand. Wenn Juden aus Spanien oder England vertrieben wurden, war das Antisemitismus, also bis heute etwas Vorwerfbares. Aber wenn Protestanten aus Österreich vertrieben oder sogar zwangsdeportiert wurden, waren das nur unumgängliche Maßnahmen zur Glättung der Alltagsverhältnisse. So auch, wenn man die ungeliebten Protestanten nicht mehr in den modernen Staat Preußen ziehen ließ, um diesen Konkurrenten nicht mit tüchtigen Handwerkern und braven Steuerzahlern noch zu unterstützen. Lieber transportierte man die Falschgläubigen auf schmalen Salzbooten in anderthalbmonatiger Fahrt ins ferne Transsilvanien, wo die etwa Zweidrittel von ihnen, die alle Strapazen überlebt hatten, nicht mehr stören und wirtschaftlich keine Konkurrenz bilden konnten. Das hielt man für die beste Methode der religiösen Befriedigung des Landes, selbst wenn man dabei Hunderte minderjähriger Kinder nicht mit ausreisen ließ, sondern in gutkatholische Bauernfamilien, Waisenhäuser und das Conversionshaus in Kremsmünster zur Erziehung im richtigen Glauben gab. – Zum Glück kann man das nicht dem deutschen Papst Benedikt  XVI. anlasten.

 

Heutzutage ist Österreich reine Sahne. Schlagobers, wo man geht und steht. Auf jedem Stück Kuchen Schlagobers, auf dem Kaffee und auf dem Eisbecher sowieso. Schlagobers muss sein, je mehr, umso besser. Das hat zur Ausbildung eines eigenen Frauentyps geführt, wie dem Besucher mit Blick für Frauen und ohne Interesse an Männern schnell auffällt. Anders als bei uns daheim bei dem massigen Amerikanerinnentyp hat man im Schlagobersland sehr oft Frauen mit besonders viel Streichelfläche auf dem Brustansatz, auf den Oberarmen und auf dem Rücken. Und hat nicht Hände genug für all die feine Haut, die nach Streicheleinheiten schreit.

Reisen, um Geselligkeit zu erleben, kann man nur noch mit fester Verabredung. Denn Zufallskontakte werden immer seltener. Erst fiel die noch in der Goethezeit florierende wunderschöne Einrichtung der gemeinsamen Speisetafel Table d’hôte weg, zuletzt machten immer mehr Thekenlokale dicht, vor allem wegen des Rauchverbots, und Hotelgäste ziehen sich in jedem Land am Abend aufs Zimmer zurück, zum heimeligen Fernsehgenuss.

Ein knallrunder Mond grinste über die Berge, die zu schwarzgestrichenen Kulissen verwandelt waren, nachdem die Sonne sich still davongemacht hatte. In der neuen Zweidimensionalität der Bergwelt gab es aber noch Standesunterschiede: Die weiter hinten standen, waren in helleres Schwarz gehüllt als die im Vordergrund. Dabei waren die Behausungen der unsichtbaren Menschen auf das Wesentliche reduziert, auf ein Licht da und dort. Mehr braucht man ja nicht zum Fernsehen. Und der vielgerühmte Wolfgangsee lag schwarz und schwer zu meinen Füßen, ein wenig hechelnd, aber doch so servil wie nicht da.

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