1984

(1984, GB 1984, 105 Min., Regie: Michael Radford)

Der englische Autor George Orwell (1903-1950) hat dieses Buch, seinen letzten Roman, unter dem Eindruck von Krieg, Nachkriegszeit und Kaltem Krieg geschrieben. Ein Kaleidoskop totalitärer Entartungen, in dem man viel Nationalsozialistisches und Sowjetisches erkennt. Das Buch wurde 1949 veröffentlicht. Daß Orwell ihm mit der Jahreszahl 1984 einen Titel gegeben hat, der fünfundreißig Jahre weit in die Zukunft hineinweist, hat zu der vereinfachenden Kategorisierung Zukunftsroman geführt. Dabei geht er über dieses Genre weit hinaus. Zukunft zeichnet er nur insoweit, wie jeder Analytiker der Vergangenheit und Gegenwart zeigt, was alles möglich ist.

Daß der Film nach dem Roman gerade im Jahre 1984 gedreht wurde, war sicherlich als eine Art Widerlegung gedacht: Ätsch, wir sind ja doch noch einmal davon verschont geblieben. Nichts mit „Big brother is watching you”, nichts mit Gedankenpolizei, mit Unperson und mit Umkehrung der Begriffe á la Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke, wie in dem fiktiven Staat Ozeanien. Diese Selbstzufriedenheit ist ein großes Mißverständnis. Ging es Orwell doch offensichtlich nicht um eine Wette auf die Zukunft, sondern um die Charakterisierung einer Herrschaftsform, die zu jeder Zeit möglich ist und war.

Und das nicht nur als staatliche Macht. Die Kirche hat im Mittelalter nicht anders die Individualität ausgeschaltet, den Sex verdammt und das Denken gleichgeschaltet, die Wahrheit verneint (siehe Galilei), mit dem Allmächtigen und Allwissenden die Massen terrorisiert, massenhaft hingerichtet und bestialisch gefoltert.

Der Film hätte die verengte Sehweise Orwells ausweiten können, ist aber bei der exakten Wiedergabe des Romans geblieben. Dabei war zu dem Zeitpunkt längst deutlich, daß der Terror nicht allein vom Staat ausgehen kann. Zu der Zeit hätte man auch den kirchlichen Terror anprangern können. Und vor allem hätte der Film darauf hinweisen müssen, daß Boulevardblätter und neue Medien, vor allem das Privatfernsehen, begonnen hatten, die Funktion des Wahrheitsministeriums zu übernehmen. Die Gleichschaltung des Bewußtseins war 1984 längst nicht mehr Sache des Staates, sondern der Medien.

Das heißt, der Film, so beklemmend und bedrohlich er wirkt, war schon bei den Dreharbeiten von der Entwicklung überholt. Trotzdem ist er ein wichtiger Denkanstoß. Hier kann man einmal sagen: nach wie vor wichtig. Vor allem, wenn man weiß, daß der Orwellsche Permanent-Überwachungs-Terror nur gegenüber der Bildungselite, also etwa 15 % der Bevölkerung von Ozeanien, ausgeübt wurde, während man die übrigen 85 %, das gemeine Volk, in geistiger Unmündigkeit und in Ruhe ließ. Heute geht es der Mehrheit an den Kragen. Heute sind gerade diese 85 % der Bevölkerung die Opfer der modernen Bewußtseins-Terror-Industrie. Und damit ihnen das nur ja nicht auffällt, hat man für sie neuerdings Big Brother als primitive Juxnummer installiert. Das Instrumentarium des Terrors wird in einer Weise weiterentwickelt, von der George Orwell, für den noch Elektroschocks und Ratten das Schlimmste waren, keine Vorstellung hatte.

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