Aber zunächst eine Zwischenstation: Heil in Weimar angekommen. Natürlich im Hotel Elephant, weil Goethe an so manchem Abend im Elephantenkeller seinen Stammplatz gehabt hat. Leider ist der Großmeister der Schreiberei nicht mehr da, doch begegnet er mir in der Stadt auf Schritt und Tritt. Goethehaus und Goethe-Memorabilien aller Art in den Klimbimläden, Goethe und Schiller überlebensgroß vor dem Theater, Goethes Gartenhaus an der Ilm und die Buchhandlungen voller Goethe. Man atmet Goetheluft, speist mit Goetheappetit, trinkt Wein und Bier nach Goethes Herzenslust. Dabei ist der Mann nicht im BMW, Audi oder Mercedes herumgesaust, hat kein Flugzeug und keine Eisenbahn gekannt, hat nicht einmal ein Fahrrad und einen Laptop gehabt, auch kein Tablet und Smartphone, der Ärmste. So nackt kann er eigentlich mit keinem von all den Besuchern mithalten, mit Besuchern aus aller Welt, die ihn trotzdem verehren. Warum nur? – Kein Mensch zu sehen, der mit einem Goethebuch in der Hand dasitzt oder herumläuft statt mit einem Handy.
Ich muss mir mühsam klarmachen: Gleichzeitig mit dem Klassikerpaar Goethe und Schiller schrieben die Bestsellerautoren Vulpius, Kotzebue und Pückler-Muskau sich die Knochen krumm. Jeder von ihnen mit mehr pekuniärem Erfolg als Goethe und Schiller zusammen. Dafür sind sie heute total vergessen. Also nichts mit: Wer schreibt, der bleibt. Das gilt offensichtlich nur beim Schreiben mit viel Abstand vom Publikumsgeschmack.
Im herzoglichen Schloss von Weimar die großen geschnitzten Altäre aus dem 16. Jahrhundert, die mich nicht loslassen. Aber dann drehe ich mich doch einmal um, weil ich sie sehen will, die Gläubigen, die Jahrhunderte lang vor diesen Altären auf den Knien gelegen haben. Menschen, die in diese geschnitzten Gesichter starrten, mit ihren Wünschen und Schuldgefühlen beladen, ihren Ängsten und Nöten. Beter, sich hineinbohrend in die heiligen Visagen, die mit hoffnungslos resignierten Blicken auf sie hinab sahen, regungslos.
Goethes Wohnhaus am Frauenplan ist heute ein Nationalmuseum. Durchaus möglich, dass der Hausherr sich das schon vorgestellt hat. Sicher war ihm klar, Ehrungen in ferner Zukunft muss man bewusstseinsmäßig antizipieren, um was davon zu haben. Er hat sich ja nicht nur mit Vergangenheiten beschäftigt, wie sie ihm in seiner Gesteinssammlung präsent war und in den vielen um ihn herum stehenden Gipsabgüssen antiker Statuen und Büsten. Goethe hat uns den vollendeten Lebenstanz im Dreivierteltakt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgeführt.
Das Weimarer Schillerhaus ist im Vergleich zum Goethehaus nur ein Häuschen. Dabei hat es sogar zwei Obergeschosse, und es hat viertausendzweihundert Reichstaler gekostet, wofür Schiller sich hoch verschuldet hat. Ein Reputationsaufwand, der kaum noch was gebracht hat, weil Schiller schon zwei Jahre später starb. Nur dass die so romantisch wirkende Fußgängerzone, an der sein Haus steht, den Namen Schillerstraße bekam. Beim Gang durch das Haus auf der Suche nach dem berühmten Schreibtisch mit den faulenden Äpfeln in der Schreibtischschublade muss ich wegen der niedrigen Türdurchgänge stets etwas gebeugt auftreten. So muss auch Schiller durch sein Haus gegangen sein. Er war ja in jeder Beziehung ein großer Dichter.
Fast schon deprimierend, dass in Weimar dieses und jenes schmucke Haus berühmt wurde, weil es zum Sterben eines unserer Großen gedient hat. Das Cranach-Haus, das Schiller-Haus, das Nietzsche-Haus. Da ist der Spruch an der Wand in der Bierkneipe, endlich gefunden, schon akute Nothilfe: „Genieß dein Leben beständig. Du bist länger tot als lebendig.“
Das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar ist für jeden Deutschen ein Schlag ins Gesicht. Durch all das Leid, das dort Menschen angetan wurde. Ein Schlag ins Gesicht aber auch schon durch die Bezeichnung Buchenwald. So sehr, wie wir Deutschen die Buchkultur zu Höhepunkten geführt haben, aber auch, weil wir von unserer geradezu atavistischen Bindung an den Wald niemals loskommen.
In der Skatstadt Altenburg keine Zeit für das so beliebte wie oft verteufelte Skatspiel, seine Produktion und sein Museum. Stattdessen einen Zeitgenossen Goethes kennengelernt, den Astronomen und Kunstsammler, Diplomaten, Reformer des Schulwesens und zuletzt auch noch Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung Bernhard August von Lindenau. Dieser 1779 auf einem Altenburger Rittergut geborene Fünfkampfchampion der Kultur hat in seinen 74 Lebensjahren mit so vielen bedeutenden Persönlichkeiten gesprochen, so viel an Kunstwerken und wichtigen Büchern um sich versammelt und so viel Geld aus seinem Privatvermögen zur Förderung seiner Mitmenschen ausgegeben, dass es nur gerecht ist, dass schon zwanzig Jahre nach seinem Tod in Altenburg ein riesiges Museum im Stil der Neorenaissance gebaut wurde, das Lindenau-Museum. Nur eine einzige Abteilung gesehen: Malerei und Plastik des 17. bis 20. Jahrhunderts. Dann aber noch mit dem neuen Direktor des Museums zusammengesessen. Der wartet auf konkrete Zusagen von Geldern des Landes Thüringen und des Bundes für dringend nötige Sanierungs- und Ausbauarbeiten. Werden doch so alte Schlösser nicht wie die darin befindlichen Kunstwerke umso wertvoller wie sie älter werden. Verstanden: Ein gut hundertvierzig Jahre alter Baukörper verlangt eine Menge Streicheleinheiten. Wir haben mit unseren 6 Euro Eintrittsgeld pro Person dafür getan, was wir tun konnten. Und das gern.
Auf dem Marktplatz von Altenburg gehen die Blicke nach oben, unwillkürlich. Weil die Häuser einen so stolz aufragend umstehen. Vier hohe Geschosse, und auf denen oft noch zwei Etagen mit Wohnungen in den steilen Dächern. As ist Trumpf. Alles bis unter den First ausgereizt. Das muss ein Gekrabbel gewesen sein wie in einem Ameisenhaufen. Jetzt aber steht die Dachromantik so leer wie viele Wohnungen und Läden darunter. Eine aufwendig restaurierte Stadt wie viele andere in der ehemaligen DDR, die noch dabei sind, neu Atem zu holen.
Dann über die Trennlinie, die lange den wenig romantisch klingenden Namen Oder-Neiße-Grenze trug. Mir schnell ins Bewusstsein hieven: Eine Grenzlinie, die viele deutsche Familien ins Unglück gestürzt hat, viel mehr aber noch für die Polen bedeutete, die in der jüngeren Geschichte ihres Landes mit mehreren gewaltsamen Grenzverschiebungen geschlagen waren. Noch einmal vergewissert, dass der Personalausweis zur Hand ist, auch der Führerschein und die Zulassung. Doch dann in Görlitz bei der Überquerung der Neiße, hinüber ins polnische Zgorzelec, überhaupt keine Grenze zu finden, auch keine Grenzer, nichts außer den Straßenschildern, die das Ende des einen Staates und den Anfang des anderen Staates anzeigen. Das reicht nicht einmal für ein Foto. Wenn ich mich an das mulmige Gefühl erinnere, das ich früher bei der Einfahrt in ein Ostblockland hatte, auch die Angst, irgendetwas falsch zu machen, wofür ich dann sofort festgenommen würde ̶ ich werde das Gefühl wohl nie mehr los ̶ , dann ist das Erlebnis der Grenzenlosigkeit doppelt beglückend. Endlich verstanden: Grenzen sind nur was für Regierende, weil die wissen wollen, welche Menschen sie als Quasi-Eigentum haben und mit Steuern belasten können, für uns brave Bürger sind Grenzen erst gut, wenn sie ehemalige sind, allerdings erst recht für die nicht so braven Bürger.
Görlitz, die mit viel Geld auf schön gemachte Stadt zeigt ein frisches Gesicht mit zu vielen Schönheitspflästerchen aus Bretterverschlägen, ein Gesicht, das mich mit großen, leeren Augen anschaut, wie auf Freier wartend. In Zgorzelec am anderen Ufer der Neiße dann der große Markt unter freiem Himmel, der alles bietet, was man als Herumreisender nicht braucht.
Unser eigentliches Ziel: Breslau ̶ ich bleibe bei der alten Bezeichnung, weil sie für mich leichter zu schreiben und zu sprechen ist als das Wort Wrocław. Wir wollen sehen, ob die Stadt wirklich so romantisch aussieht wie auf den Gemälden des Stadtmalers Adelbert Woelfl, der von 1823 bis 1896 in Breslau gelebt hat. Schon bekannt: Die Stadt an der Oder, jetzt Odra genannt, hat etwas mit Heidelberg gemeinsam, nämlich eine besonders intensiv durchgeführte Art von Gegenreformation durch den Jesuitenorden. Noch heute beherrschen da wie dort deren imposante Bauten das Stadtbild. Große Kirchen und Schulgebäude, gebaut um die katholische Lehre wieder in die Köpfe der Leute zu bringen. Ob mit dauerhaftem Erfolg, kann ich nicht feststellen. Jedenfalls überrascht, dass in Breslau, also im streng katholischen Polen, auch am Sonntag viele Geschäfte geöffnet haben. Sogar das große Einkaufszentrum, das ehemalige Kaufhaus Wertheim, hat von 10 bis 10 geöffnet. Doch hängt diese größere Freiheit des Geschäftemachens vermutlich weniger mit der Religiosität der Breslauer zusammen als mit der Arbeit der Gewerkschaften. Hier in Breslau ist das die Solidarność. Die hat offenbar Wichtigeres zu tun als um Ladenöffnungszeiten zu streiten.
So groß das Rathaus und die Kirchen und so großzügig der Fußgängerbereich Rynek rund um das Rathaus. Hohe Bürgerhäuser mit Fassaden in allen Stilen und frischen Farben. Ein Ring, der von einem Restaurant neben dem anderen gesäumt wird. Breslau beschäftigt die vielen Touristen mit dem Entdecken und Knipsen von rund hundert über die Stadt verteilten Bronzezwergen. Ein neckisches Spiel mit neckischen Figürchen. Immer wieder in die Hocke gehen oder flach auf den Boden. Wobei kaum einer daran denkt, wie dieses besondere Zwergenflair der Stadt begonnen hat. In der Siegfriedstraße stand eines Tages, als die Welt noch in Ost und West geteilt war, eine kleine Bronzestatuette auf einem rundlichen Steinsockel. Ein Männlein, das mehr verschmitzt als freundlich lächelt, beide Hände hinter dem Rücken. Erst wenn man das Kerlchen von hinten betrachtet, sieht man, dass es in der Linken einen dicken Stein hält.
Das war der Anfang einer auf putzig gemachten Aufsässigkeit, die sich schnell in allerlei mit Schablonen an Wände gespritzten Figuren fortsetzte. Die kommunistische Stadtherrlichkeit wunderte sich und wusste nichts damit anzufangen.
Aus diesen Anfängen entwickelte sich das Heer der Zwergenfigürchen in allen möglichen alltäglichen Haltungen, die an versteckten Stellen auf dem Boden oder an Hauswänden auftauchten und immer mehr wurden. Der klammheimliche Anfang von dem, was heute eine Touristenattraktion mit Alleinstellungsmerkmal ist, war unter der Herrschaft der Kommunisten eine einfallsreiche Form des Widerstands ohne Waffen.
Diese schöne Stadt Breslau, an der man sich kaum sattknipsen kann, war mehrfach ein Ort gewaltsamer Bevölkerungsverschiebungen, muss ich mir mühsam klarmachen. Ich muss Haus für Haus und darin Wohnung für Wohnung als Schauplätze schrecklicher Tragödien sehen. Als die Stadt noch eine deutsche Stadt war, haben die Nazis die jüdischen Einwohner verschleppt und weitgehend umgebracht. Im Frühjahr 1945 wurde die Stadt zum großen Teil zerstört, weil die russische Armee es erst im wochenlangen Häuserkampf schaffte, die deutsche Armee zum Rückzug zu bewegen. Als der Zweite Weltkrieg schließlich beendet war, haben die Polen die deutschen Einwohner aus der Stadt vertrieben. Breslau bekam einen neuen Namen und eine neue Einwohnerschaft, die hauptsächlich aus Polen bestand, die von den Russen aus Lemberg vertrieben worden waren. Sie bauten die Stadt wieder auf, bemüht, sie im alten Glanz wiedererstehen zu lassen. Ganz allmählich wurde Breslau dabei zum Zentrum von heimatlosen Juden aus vielen Ländern. Was den Breslauern nicht gefiel. Erstaunlich schnell entwickelte sich eine antijüdische Stimmung, und im Jahre 1968 war es dann soweit, dass erneut die jüdischen Einwohner aus der Stadt vertrieben wurden.
Themenwechsel: Für deutsche Touristen immer wieder eine Freude, in Polen Menschen zu treffen, die Deutsch können. Und bei Beschriftungen ist man erst recht auf deutsche oder englische Übersetzungen angewiesen. Denn polnische Begriffe sind immer wieder Anlass zum Seufzen: „Dieser verschwenderische Umgang mit Konsonanten, von denen man doch glatt die Hälfte einsparen könnte.“ Beim Frühstück lese ich auf dem Zwanzig-Gramm-Döschen mit Pfirsichmarmelade, dass Pfirsich hier heißt: Brzoskwiniowy. Also ein Wort, das dreizehn Buchstaben lang ist und dabei nur 4 Vokale enthält. Wie ich dann auf meinem Notizblock das Wort Pfirsich dazusetzte, fällt mir auf, dass dieses Acht-Buchstaben-Wort nur zwei Vokale enthält. Im deutschen Wort für Pfirsich also ein noch ungünstigeres Verhältnis von Vokalen zu Konsonanten als in dem polnischen Wort. Eins zu Null für Polen.
Welch ein Kontrast zur Großstadt: Die weite Landschaft des Hirschberger Tals in West-Südwest. Eigentlich kein Tal, sondern eine Ebene, die dem Riesengebirge vorgelagert ist. Man könnte sie als das Gemüsevorland der Stadt bezeichnen oder als das Naherholungsgebiet für die Städter. Für uns ist das Hirschberger Tal weder das eine noch das andere, sondern eine Art Wundertüte, aus der für uns Streuner prächtige Herrensitze purzeln. Dazu ein Schloss nach dem anderen, mehr als ein Dutzend mit kaum auszusprechenden Namen. Doch zum Glück können wir uns mit früheren Namen wie Schildau, Lomnitz, Fischbach und Erdmannsdorf durchfragen. Die Polen kennen sie noch und sind nicht pikiert, wenn wir Touristen sie benutzen. So präsentiert sich uns der wiederauferstandene Wohlstand eines fruchtbaren Landstrichs. Neben der Schlossherrlichkeit prägen hier wieder die Rittergüter das Bild, von denen die vertriebenen Schlesier vor Jahrzehnten wehmütig berichtet hatten. Im 19. Jahrhundert von Adligen aus vielen Europäischen Ländern erbaut. Jedes mit seinem besonderen Nachkriegsschicksal. Manche wieder in der Hand der alten Familie, viele inzwischen beliebte Touristenhotels.
Wir wohnen im Schloss Paulinum, genannt Pałac Paulinum, am Rand des Städtchens Hirschberg, das heute Jelenia Góra heißt. Die Bezeichnungen Schloss und Palast sind leicht übertrieben. Immerhin, dort zu essen, zu trinken und zu schlafen wird so richtig ein Genuss, wenn man daran denkt, dass es die Jesuiten waren, die diesen Palast auf die Bergkuppe gesetzt hatten, um von dort aus den Schlesiern, die es gewagt hatten, Protestanten zu werden, die Köpfe zurechtzurücken. Hier herrschte also ursprünglich die Strenge des Geistes im Dienste der Gläubigkeit. Diese Mesalliance war für die hochgebildeten Jesuiten kein Problem, weil für sie bekanntlich galt: Der Zweck heiligt die Mittel. Im Rückblick kann der Besucher nun feststellen, dass sich dieses Problem erledigt hat. Der Palast Paulinum wurde mal Unternehmervilla und mal Offizierscasino, mal Kunstdepot und mal Erholungsheim und ist nun ein Geheimtipp für Besucher, die die Waldeinsamkeit dem Luxus vorziehen.
Am Morgen aus dem Fenster der Blick aufs Riesengebirge. Frühnebel, der sich aus dem Griff des Waldes losreißt. Darüber ungerührt die Schneekoppe. 1602 Meter hoch, so steht es im Reiseführer. Die Besteigung war lange Zeit ein beliebtes Abenteuer für wohlhabende Besucher aus den großen Städten. Auch Goethe war stolz auf dieses bestandene Abenteuer. Uns ist das Riesengebirge nicht riesig genug, um uns an den Aufstieg zu machen. Wieso überhaupt dieser Name? Gab es denn in den wilden Wäldern des Riesengebirges mehr als nur den einen Riesen, den Rübezahl, den Moritz von Schwind gemalt hat? Als einen großen Kerl in so was wie einer Mönchskutte hat er ihn dargestellt, mit hinten offenen Latschen, einem gewaltigen Bart und einem schweren Knüppel in der Hand. Woher überhaupt dieser komische Name Rübezahl? Vielleicht sollte ich gelegentlich „Das Rübezahlbuch“ lesen, das Carl Hauptmann, der ältere Bruder von Gerhart Hauptmann geschrieben hat.
Also zu Gerhart Hauptmann, dem Dichter Schlesiens, 1862 geboren, den man optisch so leicht mit Goethe verwechselt. Was ihn gefreut hätte. Er hatte dieses erhaben Gravitätische Goethes und strebte ihm auch mit der wallenden Frisur nach. Genau wie Goethe auch immer sein eigener Lieblingsdarsteller. Hier im Hirschberger Tal wohnte er zunächst mit seiner Frau in einem schönen Landhaus in Schreiberhau, zusammen mit seinem Bruder Carl und dessen Frau. Das Haus wurde schnell ein beliebter Künstlertreff. Genauso schnell wurde es Gerhart Hauptmann zu klein und eng und zu bescheiden.
Schon nach vier Jahren trennte er sich von Haus und Frau Marie und schuf für sich und seine zweite Frau Margarete in einer anderen Ecke des Hirschberger Tals eine neue Unterkunft, diesmal riesengroß und burgartig, das Haus Wiesenstein, bei Agnetendorf, mitten im Wald. Ein Palast mit Aussichtsturm und mit einer Empfangshalle, die von einem hohen Sternenhimmel überzogen ist, und mit breitem Aufgang zum Großdastehen auf einer Empore und zum Verschwinden in den Kulissen einlädt wie auf einer Opernbühne. Dieser Palast blieb der Arbeitsplatz für den Dichter bis zu seinem Tode im Jahre 1946. Weil Gerhart Hauptmann sich so gern Tempel baute, hat er heute vier Museen, nämlich in Schreiberhau, in Agnetendorf, in Berlin und auf der Insel Hiddensee. Zumindest damit hat er sein großes Vorbild Goethe übertroffen.
Auf dem Heimweg schließlich Bad Muskau, gleich hinter der polnisch-deutschen Grenze. So viele Jahrzehnte ist es her, dass ich in meinem Buch über die Entwicklung des Tourismus in den letzten viertausend Jahren, das den Titel trug: „Welt hinter dem Horizont“, den herumreisenden Schriftsteller Fürst Hermann von Pückler-Muskau erwähnt habe. Den Mann, 1785 geboren, der einen riesigen Landsitz erbte, den er zu einem großen Teil in einen Park verwandelte. Pückler-Muskau, wie er sich kurz nennen ließ, war wohl der verrückteste Typ, den das 19. Jahrhundert erlebt hat. Zumindest hat er dieses Bild von sich gepflegt. Ein wilder Herumtreiber, der seine Zeitgenossen mit phantasievoll ungewöhnlichen Aktionen schockte und sich als Liebhaber bemühte, noch Casanova zu übertreffen. Ein Lebemann, der stets viel mehr Geld ausgab als er hatte. Der sich immer wieder und überall verschuldete, aber auch immer wieder reiche Leute fand, die ihm Geld gaben, weil er als Mitglied eines hoch angesehenen schlesischen Uradelsgeschlechts einer war, den man sich gern zum Freund machte oder zumindest zum Schuldner. Vor allem half es seinem Renommee, dass er es schließlich sogar schaffte, Lucie, eine Tochter des allmächtigen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg zu heiraten.
Fürst Pückler versuchte sich als Spieler, als Offizier und als Diplomat, aber auch als Reiseschriftsteller. Beim Publikum kam er gut an mit seinen Büchern voll kurioser Bemerkungen und überlegener Urteile, in denen er sein Herumreisen als junger Mann in Europa und dann seine Reisen in Afrika und im Orient schilderte. Mit diesen amüsanten Berichten über seine meist jahrelangen Reisen war er ein Vorläufer von Mark Twain – und mir. Bei seinen vielen Ehrenhändeln überlebte der Fürst achtmal ein Duell, weil er ein so ungewöhnlich guter Fechter und Pistolenschütze war. Immer wieder dicht vor dem Tod wurde er doch 85 Jahre alt. Aus Afrika hatte er zum Entsetzen seiner Frau Lucie und der Muskauer Bürger eine junge Schwarze namens Machbuba mit nach Muskau gebracht, die er auf dem Kairoer Sklavenmarkt gekauft und zu seiner Geliebten gemacht hatte. Auch die hat er überlebt.
Vor allem aber machte er sich bei langen Aufenthalten in England zu einem Fachmann in der Gestaltung englischer Parkanlagen. Pückler-Muskau war fast immer unterwegs und nur zu kurzen Besuchen daheim. Aber für den Ausbau des Muskauer Parks und des Schlosses mittendrin hatte er immer wieder neue kostspielige Ideen. Er brachte Rehder, seinen Verwalter, in Verzweiflung, weil er rücksichtslos Schulden auf Schulden häufte. Nach seiner Meinung eine gute Investition, denn das große Gesamtkunstwerk Park würde sich in hundertfünfzig Jahren auszahlen, wenn die Bäume ihre volle Größe erreicht haben würden und es auf dem Kontinent nichts Vergleichbares geben werde. Ich muss mir diese beharrliche Verschwendung wohl so vorstellen: Als sein Verwalter ihn eines Tages mit der Frage zu belästigen wagte, wofür er so gewaltige Schulden aufhäufe, da er doch fast immer unterwegs sei, also gar nichts von seinem Park habe, verkniff der Fürst sich klugerweise die Antwort, die ihm auf den Lippen lag, nämlich er erfreue sich Tag für Tag an dem Gedanken, dass dieser Park ihn noch Jahrhunderte weiterleben lässt.
Als schließlich nichts mehr gehen wollte, die Schulden überhand nahmen, einigte sich der immer noch gut aussehende und abenteuerlustige Fürst mit seiner Frau Lucie darauf, dass sie sich scheiden ließen, damit er frei sei, sich in England und anderswo nach einer reichen jungen Erbin umzusehen, die bereit wäre, ihn zu heiraten.
Ja, viel über den Fürsten Pückler-Muskau und seinen Park gelesen und jetzt tatsächlich in Bad Muskau. Wir können uns gerade noch eine Stunde von einem recht auskunftsfreudigen polnischen Kutscher zweispännig durch den kleineren deutschen Teil des Parks chauffieren lassen, zeitweilig die Neiße entlang, mit Blick hinüber in den größeren polnischen Teil. Diesen anderen, hügeligeren Teil des Muskauer Parks wollen wir am nächsten Tag erkunden, mit Mieträdern. Doch wie wir aus der Kutsche klettern, fängt es an zu regnen. Und so geht es weiter am nächsten Tag: Raining cats and dogs, wie die Engländer sagen würden. Nun ja, in dem englischsten aller kontinentalen englischen Parks kein Wunder.