Georges-Arthur Goldschmidt: Der versperrte Weg – Roman des Bruders

 

 

Ichaustausch

(btb-Taschenbuch, München 2023, ISBN 978-3-442-77303-9)

Dass man dem Erzähler als dem raunenden Beschwörer des Imperfekts nicht mehr trauen darf, gilt als ein Gesetz in der modernen Literatur. Unangezweifelt und gehorsamst befolgt. Mit der Suche nach neuen, ganz anderen Erzählformen werden den Autoren allerlei Verrenkungen abverlangt – und den Lesern zugemutet. Der 1928 geborene Erzähler, Essayist und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt hat sich an eine besonders erstaunliche gewagt: Er macht auf Bruder, kriecht in das mit sich selbst zerstrittene Gemüt seines großen Bruders Erich, spielt uns dessen permanente geistigen Bauchschmerzen als stolzer Deutscher vor und lässt uns dessen Gehschwierigkeiten aufgrund der jüdischen Herkunft miterleben. Dabei wird er selbst zum kleinen Brüderchen, weinerlich, mit homoerotischer Orientierung, hemmungslos masochistisch und deshalb als lästige Nebenfigur nur gelegentlich und sehr kurz erwähnt.  

Dabei ist der Autor, der es wagt, sich so darzustellen und sich grenzenlos selbstkritisch zu outen, ein auf Französisch und auf Deutsch schreibender, aus großbürgerlicher Familie in Hamburg stammender und in Paris lebender Literat mit vielen literarischen Erfolgen. Zusammen mit seinem Bruder hatten die Eltern ihn gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Obhut eines Schweizer Internats gegeben, so dass beide Jungen die Judenverfolgung unverletzt überlebten.  

Erich jedoch, den vier Jahre älteren Bruder, hielt es nicht in diesem Refugium. Er fühlte sich gedrängt, gegen die Nazis anzukämpfen. Ruhelos, heimatlos und ohne Papiere schloss er sich der Résistance an. So stolz er auf sein Deutschsein war, er musste es unsichtbar machen, gleichzeitig litt er darunter, dass sein Familiennamen ihn mit den Menschen identifizierte, den Juden, zu denen er als getaufter Protestant nicht gehört hatte, auch nicht gehören wollte. Mit energischem Einsatz als Untergrundkämpfer gegen die deutschen Besatzer Frankreichs schaffte er es sogar, in die französische Armee aufgenommen zu werden und mit ihr als einer der Befreier in Paris einzuziehen. Er hatte danach allerlei Verlegenheitsjobs, um als Wohnungsloser zu überleben. Schließlich blieb ihm als Ausweg aus der täglichen Existenznot nur noch die Einschreibung bei der Fremdenlegion und der Dienst in Algerien. Zuletzt war er dann noch im Außendienst für eine Bank tätig.  

Eine spannende Lebensgeschichte. Und eine Art, die neuere europäische Geschichte aufleben zu lassen, die so ungewöhnlich daherkommt, dass sie zunächst zu Verwirrung führt. Man fragt sich: Wer spricht hier über wen? Die Leser müssen sich die Geburtsjahre 1928 und 1924 in der richtigen Reihenfolge  bewusst machen, das heißt die kleinere Zahl als die größere Nummer sehen, die des großen Bruders. Dazu verhilft ein klärender Hinweis des Autors, der allerdings erst auf der letzten Seite des Buches kommt.

Gravierender als die Verwirrung ist, dass der Erfolgsautor Goldschmidt die in den Text eingestreuten zahlreichen Hinweise auf sprachliche Besonderheiten bei diesem Ichaustausch alle dem großen Bruder Erich zuordnen muss. Dabei ist der Kleine der Mann des Wortes, während der Große als Mann der Tat brillierte. Und die Bemerkungen des Literaten über Sprachliches sind das Eigentliche des Buches. Die Sahnehäubchen auf dem Kaffee des deutsch-französischen Verhältnisses.

Das klingt beispielsweise so, wenn die Angst der beiden Jungen vor den Uniformierten beschrieben wird: „Sie fühlten beide nur ihre Kopfform von innen, sonst nichts.“ Oder wie es in einer Situationsschilderung heißt: „Alles war nun vom Krieg überdeckt, er war überall gegenwärtig, bis in die Landschaft hinein; Krieg war in den Wiesen, den Bäumen, den Häusern und gerade in den Stimmen der Menschen.“ Wie er selbst, Erich, sich durch das Französische veränderte, wird so erklärt: „Seine Kindheitssprache war ihm fremd geworden, der Atemgang der beiden Sprachen hatte sich voneinander entfernt, die Stimme lagerte sich anders. Im Französischen brauchte man nicht so sehr ganz durchzuatmen, man sprach mehr Kopf als Kehle, es hörte sich ganz anders an. Das Französische hörte sich seichter an, es griff nicht so tief in einen hinein wie das Deutsche, wo alles ernst gemeint und empfunden wurde, wo man sofort auf die Wahrheit stieß, wie sie dastand und nicht anders konnte. Es war, als gäbe es keine Auswege, als sei man zu eindeutigen Aussagen verpflichtet. Im Deutschen ist man sofort bei den Pudels Kern …“

Man möchte immer weiter zitieren. Aber man kann stattdessen auch dazu raten, das Buch zu lesen. Voilà!

(Walter Laufenberg in www.netzine.de)

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