597. Ausgabe


Noch ist es nur ein Tröpfeln, wie Afrika ausblutet. Aber es ist schon unübersehbar, wenn die Menschen in maroden Booten Europa zu erreichen versuchen und viele das auch schaffen, zu viele dabei den Tod finden. Die Neuankömmlinge sind bisher nur Tausende. Den Ansturm der vielen Millionen wagt man sich noch gar nicht vorzustellen. Weil man nur die kleinen Pflästerchen namens Frontex und Schengen zur Hand hat, aber nichts zum Blutstillen. Die europäischen Politiker sollten anfangen, afrikanisch zu denken.

2010 war unser Sarrazinjahr, so entnehme ich der Presse. Es brachte uns den höchsten Wanderungsüberschuss seit sechs Jahren: 798 000 Zuwanderer gegenüber 671 000 Auswanderern. Dabei wird gesagt, dass die meisten Zuwanderer aus Polen und Rumänien gekommen sind, zur Frage der individuellen Qualifikation wird jedoch nichts gesagt.

Schlimme Nachrichten: Ende 2011 soll es auf diesem Erdball bereits 7 Milliarden Menschen geben, und Ende 2012 werde ich schon einer von 10 Milliarden sein. Das heißt, ich werde von Jahr zu Jahr unbedeutender.

Andererseits könnten bei uns neben Guttenberg auch Namen wie Koch-Mehrin, Saß und Chatzimarkaki ihre Doktortitel verlieren, was mich als zum Kreis der Menschen gehörend, die sich ihren Doktortitel ehrlich erarbeitet haben, dann wieder etwas aufwerten würde.

In Ernst Jüngers Haus in Wilflingen bei Sigmaringen eingefallen und das Ambiente des 1998 mit 102 Jahren dort gestorbenen Schriftstellers erlebt. Dabei war mir die Besichtigung von Bett und Badewanne und Toilette als ein Eindringen in die Privatsphäre mehr peinlich als wichtig, bloß als Beleg für die beinahe franziskanische Anspruchslosigkeit des Bestsellerautors akzeptabel. Und die Sammlung der 40 000 getöteten und eigenhändig aufgespießten Käfer aus aller Welt sagte mir nichts. Doch der Mann hat so gut wie jeden Augenblick und jeden Gedanken genauso aufgespießt – aber ihn nicht getötet, ihm im Gegenteil ein Mehrleben und ein Weiterleben als Literatur geschenkt.

Lugano am Tag vor Muttertag. Zwischen den Prachtläden voller Armbanduhren aller Edelmarken in der Fußgängerzone eine Ausstellung aller europäischen und japanischen Autos. Eins so blitzeblank wie das andere. Nur die vielen Hunde lockern das Bild auf. Alles für die Mütter? Eine Uhr so an die Zeit gebunden wie die andere, kein bisschen schneller oder ertragreicher. Da sind die Autos schon ganz was anderes: Eines noch schneller als das andere – weg. Hoffentlich.

Da und dort an hoher Wand eine Sonnenuhr, und in den engen Gassen immer wieder ein anderer Laden mit großem Angebot an teuren Armbanduhren im kleinen Schaufenster, das war Ascona am Lago Maggiore. Da wurde mir die Zeit so lang, dass ich mich schleunigst davonmachte. Ohnehin war die Ausstellung auf dem Monte Verità mit einer der prominentesten Aussteigerkolonien vom frühen zwanzigsten Jahrhundert wegen Renovierung geschlossen – bis 2013.

Locarno am Lago Maggiore, das sind hochflorig grüne Hänge, offensichtlich ein Paradies für Kräne. Mehr als ein Dutzend, die rund um die berühmte Madonna del Sasso stehen. Deren Kirche ist wegen Renovierung geschlossen. Hinter dem Berghang die hohen Berge, die ihre weißen Häupter schütteln, während die Wellen des Sees es nicht leid werden, an der Strandpromenade genüsslich schmatzend auf die ausgehängten Speisekarten hinzuweisen.

Wo die Fische, diese unbekannten Bewohner der Tiefe, scheinbar in unendlicher Fülle vorhanden, nur noch verzweifeln können, umzingelt wie sie sind von den in die Hänge gedrückten Behausungen der Menschen, Fischfresser fast alle, die ihre Häuser mit gierigen Rechteckaugen bestückt haben, das Wasser im Blick, das sich unwirsch kräuselt, sich abzuwenden versucht, – da bleibt der kluge Fisch lieber in der Tiefe.

Isola Bella im Lago Maggiore, Insel der Schönheit, nichts kommt dir gleich …, so die von Paul Lincke vertonte Schlagerversion. Die reale Version zeigte sich mir nach dreieinhalb Stunden Schiffsreise. Eine Insel, die in ihrer ganzen Breite von einem fettärschig aufgesetzten Palazzo eingenommen wird, hinter dem ein ebenso behäbiger französischer Garten den Rest des Eilands füllt, von den paar Häusern und Klimbimläden und Futterplätzen für Touristen an der Schiffslände abgesehen. Napoleon hat auf seinem Italienfeldzug in dem Riesenschloss kampiert, das sich die schwerreiche Fürstenfamilie Borromäus erbaut hatte. Die Familie hat einer ganzen Inselgruppe den Namen gegeben: Borromäische Inseln, u. a. Isola Bella, Isola Pescatori und Isola Madre. Dabei war mir der Name Borromäus bisher nur von den katholischen Büchereien her bekannt, als ein Markenzeichen der speziellen Tendenzliteratur. Dort im Schloss sah ich ihn nun stehen, als überlebensgroße Plastik, den heiligen Carl Borromäus, den Aussteiger aus dem Luxusleben. Hat doch jede Familie einen, der aus der Art schlägt. Die Schlossinsel, so lese ich in einer unauffälligen Randnotiz der Palastbeschreibung, hatte ihren Namen zu Ehren der verstorbenen Frau Isabella eines der Borromäusfürsten bekommen. Ein späteres, mundfaules Jahrhundert hat aus der Isola Isabella jedoch die Isola Bella werden lassen. As time goes by.

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