595. Ausgabe


Die globale Erwärmung zeigt sich besonders krass im hohen Norden des Erdballs. Grönland wird allmählich wieder das Grünland, das es einmal war und woher es seinen Namen hat. Und Island, dessen Namen wir stets falsch schreiben, weil Ísland richtig wäre, was Eisland heißt, mutiert überraschend schnell vom Eisland zum Grasland. Immer mehr Teile des Landes sind von Gras bedeckt, und schon kann man sagen: Die Isländer leben vom Gras. Von dem Gras, das ihre Schafe, Pferde und Kühe fressen und als Grundnahrungsmittel Fleisch und Milch an die Menschen der Insel weiterreichen. Wohl bekomm’s!

Island hat jetzt einen Sonderstaatsanwalt zur Verfolgung der Schurken, die das Land in den Kollaps getrieben haben. Sein Name ist Ólafur Hauksson. Auf ihn konzentrieren sich die Hoffnungen der anständigen Isländer. Einen der ranghöchsten Beamten des Wirtschaftsministeriums hat er schon ins Gefängnis gebracht, mehr als hundert Einzelfälle von Wirtschaftskriminalität hat er in Arbeit. Ein Problem ist nur: Island hat nicht genügend Gefängnisse für all die Wirtschaftsverbrecher, die noch zu verurteilen sind. Deshalb ist schon davon die Rede, die vielen imposanten Wohnanlagen, mit denen Bauspekulanten Reykjavik vor dem Crash zugestellt haben und die jetzt leerstehen, weil niemand genug Geld für so teure Eigentumswohnungen hat, einer neuen Verwendung zuzuführen. Sie sollen zu Gefängnissen umfunktioniert werden. Da winken den Baulöwen also neue saftige Happen.

Im Winter 2008 war ich im nordisländischen Akureyri mitten zwischen den aufgeregten Menschen, die auf dem Hauptplatz lautstark gegen ihre Regierung protestierten, weil die nichts gegen die korrupten Goldboys, die Bankmanager von Kaupthing, Landsbanki und Glitnir, unternommen hatten, die das Land in den Ruin rissen. Jetzt war ich in einem der Abstimmungslokale, in denen die Isländer mit großer Mehrheit ihr Votum gegen eine Rückzahlung ihrer Schulden abgaben. In den Tagen davor brachte die größte Tageszeitung, das Morgunblađiđ, immer wieder ganzseitige Anzeigen sowohl für ein Ja wie auch für ein Nein bei der Volksabstimmung. Keine Parteianzeigen, sondern finanziert von privaten Gruppierungen, denn der Meinungsstreit ging quer durch alle Parteien. Die überwiegend linksgestrickten Isländer störte, dass Kapitalisten ihr Geld zurückbekommen sollten, dabei waren auch diese Anti-Rückzahlungs-Anzeigen von Kapitalisten bezahlt. Jetzt ging es nur noch darum, ob die Verluste zu Lasten der isländischen Steuerzahler gehen sollten oder doch lieber zu Lasten der britischen und holländischen Steuerzahler, weil diese Staaten den Anlegern ihr Geld erstattet hatten. Nur gut, dass der Unsinn mit der Befragung des Volkes jetzt vorbei ist und die Sache vor ein EU-Gericht kommt, wo sie hingehört.

Auf der Suche nach einem Restaurant, das offen hat, schließlich in Sigulfjödur angekommen, dem letzten Fischerstädtchen am nördlichen Rand Islands, nur durch drei Tunnels hintereinander zu erreichen. Aufatmen, weil der Unterwelt glücklich entkommen, und die Augen über die Berge ringsum gleiten lassen. Die leuchteten in die Nacht, frisch eingeweißt von Schnee, mit einem leicht bläulichen Bühnenlicht, das alles ins Feenreich verschob. Aber die Pizza war real – und sehr schmackhaft.

Surfen bildet. Bei Welt Online habe ich einen aus aktuellem Anlass gebrachten Artikel über Kannibalismus gelesen. Unmittelbar unter diesem Artikel stand als Überschrift über dem nächsten Beitrag: 5 verbotene Lebensmittel. Da ging es um das Ansetzen von zuviel Bauchfett. Jetzt weiß ich endlich, warum Kannibalismus verboten ist.

Was für ein Gefühl, ständig von Leuten umgeben zu sein, die sich fast jeden Abend einen Fernsehkrimi reinziehen, an manchen Tagen auch drei hintereinander. Und für die ein Buch ein Krimi sein muss. Dieses ungeheure Bedürfnis nach Schrecken und Gewalt, nach Blutvergießen und Zerstörung, es kann wohl nur noch durch den nächsten Krieg befriedigt werden.

Inzwischen ist die Bevölkerung in den westlichen Wohlstandsstaaten zu mehr als Dreivierteln verglast, und immer mehr Ohren zeigen sich mikroverstärkt. Das Geschäft mit den diversen Krücken hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Dabei sind die Sehhilfen weitgehend überflüssig, weil sich mit Augenübungen die Fokussiermüdigkeit der Augmuskulatur vermeiden lässt. Kein Training hilft jedoch gegen den Hörverlust, da würden nur Gesetze gegen den Lärm, den Umweltschaden Nr. 1, helfen.

Erst allmählich wird mir klar: Musik zu hören kann ein Genuss sein, macht einen aber kein bisschen klüger. Auch Bilder zu betrachten kann ein Genuss ein, lässt einen aber selten neue Erkenntnisse ernten. Bücher zu lesen kann ebenfalls, muss aber nicht immer ein Genuss sein, doch man wird davon selbst bei weniger gehaltvollen Büchern gescheiter. Zwangsläufig, weil die Autoren ja etwas sagen mussten, um die Seiten zu füllen. Also lesen!

Wieder daheim geistert mein computermüder Blick aus dem Fenster durch alte Sprachen. Da geht die Frau mit ihrem schwarzen Hund, dem sie den schönen Namen Bela gegeben hat. Wie sinnig. Ein Frachter fährt auf dem Rhein, der den Namen Aquapolis trägt. Ihm folgt, beinahe hätte ich gesagt: auf dem Fuße, ein Frachter mit dem Namen Acropolis, beide auf Talfahrt. Gleich hinterher die belgische Serenitas. Und dann die Esperanto. Was mich doch etwas irritiert. Vorm Haus steigen die Neuzugezogenen aus ihrem Auto, das auf seinem Nummernschild noch die Buchstabenfolge zeigt: SPQR. Sie wollen ihren Wagen, einen Fiat, schnellstens ummelden und verstehen nicht, warum ich mich für das alte Kennzeichen begeistere.

Da fällt mir auf: Im Englischen sind die Wörter liegen und lügen gleich: to lie. Was hoffentlich nicht heißt, dass den Angelsachsen das Lügen besonders liegt.

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