Siegfried von Vegesack: Das fressende Haus

(Siegfried von Vegesack: Das fressende Haus, Roman, erstmals erschienen Berlin 1932, 4. Auflage 2005 im Morsak-Verlag Grafenau, gebunden 336 Seiten, 16,80 Euro, ISBN 3-86512-009-1)

Wie nicht alles, was neu ist, deshalb schon wertvoll ist, muss nicht alles, was alt ist, deshalb wertlos sein. Denn neu und alt sind ablösbare Haftetiketten, aber keine Qualitätsmerkmale. Ein Beleg für diese Faustformel ist der schon als alt geltende Roman des Balten Siegfried von Vegesack, in dem er schildert, wie in Bayern ein baltischer Adliger zum Bauern wurde.

Ein neugierig machender erster Absatz: „Als der Mittagszug an der kleinen Station hielt, stieg ein fremder Herr, ohne Hut, einen braunen Überzieher auf dem linken Arm, ein Lederköfferchen in der rechten Hand, aus dem Wagen. Nun stand er da, groß, breitschultrig, mit zerzausten Haaren und sah sich unschlüssig um.“ Der Mann ist versehentlich in den falschen Zug gestiegen, erfährt man, und will nun mit dem nächsten Zug zurückfahren. Er fährt auch zurück, doch davor liegen viele Jahre beziehungsweise 333 Seiten. Denn der Mann mit dem sonderbaren Namen Kai Torklus sieht sich zunächst einmal in dem Dörfchen um, in das es ihn verschlagen hat. Er verpasst einen Zug nach dem anderen und übernachtet in der Fremde, obwohl er als Fremder so misstrauisch beäugt wird, wie er staunend die enge Welt der kleinen Leute betrachtet. Er entpuppt sich als ein Mann von baltischem Kleinadel, der seine Heimat und sogar seine Staatsangehörigkeit verloren hat. Er lässt sich schließlich sogar dazu überreden, den Wohnturm einer alten Burg, die im Übrigen fast nur noch Ruine ist, zu kaufen und dort einzuziehen. Er wird sein eigener Handwerker, dann ein Bauer, gewinnt aber auch Mithelfer. Sogar die zierliche Tochter der besten Familie des Ortes läuft zu ihm über und wird seine Frau. Der Herr Baron, wie er nur noch genannt wird, bleibt lange ein Fremdling, in religiösen Dingen sogar für seine Frau, weil er sich ihr als Agnostiker zu erkennen gibt. „Überall wird hier dieses furchtbare Kreuz mit dem zu Tode gemarterten Gott aufgestellt – als wären die Menschen stolz drauf, dass sie Gott gekreuzigt haben! Ist es nicht grauenhaft, dieses Verbrechen zum Symbol einer Religion zu machen?“ Doch entwickelt er sich zum Wohltäter der Gemeinde, bis er durch die immer weiter steigenden Kosten des Hauses zum Pleitier wird. So dass es auf der vorletzten Seite des Buches zu dem Resümee kommt: „Nur wer nichts besitzt, dem gehört alles.“ Auch eine Art, ein Happy End zu schaffen.

Siegfried von Vegesack, 1888 bei Valmiera in Livland (heute Lettland) geboren und in feudalen Verhältnissen aufgewachsen, als Student der Geschichtswissenschaft in Dorpat in einer schlagenden Verbindung, was ihm bei einer Mensur den Verlust eines Auges einbrachte, hat das Schicksal des deutschen Landadels im Baltikum im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg erfahren: Deutschenhass der einheimischen kleinen Leute als Reaktion auf die Ignoranz des späten Junkertums, Russifizierung oder Vertreibung, Heimatlosigkeit, Emigrantenschicksal. Durch Zufall fand er die Burg Weißenstein bei Regen im Bayerischen Wald, die er 1918 mit dem Geld seiner schwedischen Schwiegermutter erwarb, restaurierte und zu seinem Domizil machte. Mit einigen Unterbrechungen lebte er dort bis 1935 zusammen mit seiner ersten Frau, der schwedischen Schriftstellerin Clara Nordström (1886-1962), und ab 1940 mit seiner zweiten Frau Gabriele Ebermayer (1903-1972). Als sein Hauptwerk gilt der Roman in drei Teilen mit dem Titel „Die Baltische Tragödie“, der 1933-1935 erschien. Der Autor starb fünfundachtzigjährig auf Burg Weißenstein im Jahre 1974, in dessen unmittelbarer Nähe sich auch sein Grab befindet.

Der Roman mit dem drastischen Titel „Das fressende Haus“ bringt nicht viel mehr als die Mahltöne des Kauens und die Verdauungsgeräusche des Lebens auf Grasnarbeniveau. Keine Sensationen, keine Gags, keine Wunder, auch keine großen Heldentaten. Doch wie einfallsreich und gefühlvoll die platte Simplizität des Lebens und des Sterbens geschildert wird, das ist ein Genuss für den, der Sprache zu genießen weiß. In immer wieder neuen und nie ermüdenden Wendungen malt der Autor den Wechsel der Jahreszeiten und die Überraschungen, die das Wetter zu bieten hat. Was denn sonst ist das Leben eines Bauern neben dem Arbeiten, Essen und Trinken und der Vermehrung sowie dem Sterben um ihn herum? Der Autor führt vor, was er in dieser mehr oder weniger konsequent erlebten Subsistenzwirtschaft gelernt hat, und er erweist sich dabei als ein Dichter.

„Der Tag erlischt. Das Leben erlischt. Du sinkst in die große Dunkelheit zurück, aus der du gekommen bist … Aber die Sonne ging immer wieder auf, immer wieder wurde es Morgen. Zuerst kam die Dämmerung, grau, bläulich-weiß wie Magermilch spülte das Frühlicht in das offene Fenster. Die Geräusche waren noch verschlafen und gedämpft, Tauben gurrten, ein Hahn krächzte, Holzpantinen schlurften, ein Melkeimer klapperte. Dann fiel der erste Dengelschlag, hart und hell klopfte der Hammer auf die Sense. Das Dorf erwachte, eine Tür kreischte …“

Der Autor geht recht salopp mit Perspektivwechseln um, und er mischt nicht nur absichtsvoll die Vergangenheitsform mit der Gegenwart. Was alles nicht stört. Doch ist auffällig, wie einseitig positiv die beiden Hauptfiguren des Romans, Kai und seine junge Frau Pytt, gezeichnet sind. Lichtgestalten, kein Tüpfelchen auf der weißen Weste. Nicht einmal von irgendwelchen üblen Wünschen oder Absichten beschädigt. Die fehlende Plastizität ist eigentlich ein untrügliches Kennzeichen des Trivialromans. Doch trifft diese Kategorisierung hier nicht zu. Dafür ist die Sprache dieses Romans zu kunstvoll, und das Ambiente bringt nicht den falschen Glanz des reinen Unterhaltungsromans. Die Erklärung für die fehlenden Schatten der beiden Protagonisten liegt wohl eher darin, dass der Roman weitgehend autobiografisch ist. Er präsentiert uns also die Betriebsblindheit des schreibenden Egos und eine liebevolle Hagiographie seiner Frau. Für das eine wie für das andere wird man leicht Verständnis aufbringen, und mit umso mehr Berechtigung kann man abschließend zu dem Urteil kommen: Ein schönes Stück Dichtung.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de/category/buchbesprechung)

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