Rashomon

(Rashomon, Japan 1950, 83 Minuten, Drehbuch: Akira Kurosawa und Shinobu Hashimoto, Regie: Akira Kurosawa, nach zwei Kurzgeschichten von Ryunosuke Akutagawa)

Ein und dasselbe Ereignis von verschiedenen Personen geschildert, die Teilnehmer des Geschehens oder Augenzeugen waren, das ergibt stets eine Folge von völlig unterschiedlichen Ereignissen. Das ist eine bekannte Tatsache, wie jeder Richter bestätigen kann und wie auch in der Literatur schon häufig wiedergegeben (beispielsweise in „Die Schule der Frauen“ von André Gide).

Die Handlung des Films spielt in der Heian-Zeit, also zwischen 794 und 1184. In einem unheimlichen Buschgebiet, genannt Wald der Dämonen, überfällt ein berüchtigter Räuber zwei Reisende, nämlich einen Samurai und dessen Frau, die er vor den Augen ihres zuvor gefesselten Mannes vergewaltigt. Anschließend kommt der Samurai zu Tode, und seine Frau entflieht. So die Grundstruktur des schrecklichen Geschehens.

Vor einem Tribunal, dessen Personal nicht gezeigt wird, treten die Beteiligten nacheinander auf und schildern das furchtbare Ereignis. Dabei gleitet die Aussage jeweils in die gezeigte Handlung im Wald ab. Zunächst ist die Version des Banditen zu hören und zu sehen, dann die der Frau, danach die des getöteten Samurai, die von seinem Geist, einem Medium, erzählt wird. Zuletzt bringt der Film an anderem Ort dann auch noch die Aussage und Schilderung eines Augenzeugen, der in den Wald gegangen war, um Holz zu holen, und nur zufällig an den Tatort gelangt war. Das ergibt eine Folge von vier dramatischen, aber sehr unterschiedlichen Geschehnissen.

In den Schilderungen der Beteiligten geht es, mal ausgesprochen, meist aber unausgesprochen um Schande und um das Bemühen, das Gesicht zu wahren, notfalls durch Harakiri, um die traditionelle Verpflichtung der Frau, dem zu folgen, der sie im Kampf erobert hat, um den selbstverständlichen Mut zum Zweikampf und die Verächtlichkeit des Verrats, aber auch um die Pflicht des Mannes, die Frau zu sich zu nehmen, die sich ihm hingegeben hat. Kurz gesagt, es geht um das ganze Universum japanischer Ehrvorstellungen, wie sie vor rund acht Jahrhunderten selbstverständlich waren. Sie werden durch die verschiedenen Schilderungen ihrer Großartigkeit entkleidet.

Das Ganze wird gespiegelt in den Gesprächen von drei Männern, die in einem Unwetter Unterschlupf gefunden haben in dem halbverfallenen Tempeltor Rashomon bei Kyoto. Der eine ist der Holzfäller, der zweite ein Mönch, der dritte ein primitiver Bürger. Sie erscheinen als Spiegelbilder der drei Charaktere, die an dem schrecklichen Ereignis beteiligt waren: Der eine ordentlich, der andere sanft und der dritte wild.

Zuletzt entdecken die drei auf ein Nachlassen des Regens wartenden Männer im Tempeltor noch einen ausgesetzten Säugling, den der Holzfäller, der gerade erst als Lügner entlarvt wurde, liebevoll in seine Obhut nimmt. Anlass genug, den Mönch sagen zu lassen, das lasse ihn doch wieder an den Menschen glauben. Ein unerwartetes und auch unnötiges Happy End, das über die literarische Vorlage hinausgeht.

Den ersten Teil, den vor dem Tribunal, beherrscht die Feststellung, alle behauptete Wahrheit sei doch nur Lüge. Was zu dem Resümee führt, wenn die Menschen einander nicht mehr glauben könnten, werde das Leben zur Hölle. Den zweiten Teil, den im Tempeltor, beherrscht die Feststellung, dass wir Menschen alles aus Egoismus tun. Was dann prompt widerlegt wird durch die Mitmenschlichkeit des Holzsuchers gegenüber dem ausgesetzten Kleinkind und zu dem Resümee führt, Menschenfreundlichkeit lasse trotz Verlogenheit wieder an den Menschen glauben. Die verschiedenen Handlungsversionen haben eines gemeinsam: Jeder ist bemüht, sich in günstigem Licht erscheinen zu lassen. Das lässt den Mönch, im alten Japan immerhin eine wichtige Instanz, resümieren: „Das Entsetzliche ist, dass es keine Wahrheit zu geben scheint.“ Eigentlich keine umwerfend neuen Erkenntnisse.

Der Film ist weitgehend bloß moralisierendes Theater, in dem die Absolutheitsforderungen an den Menschen zugunsten der Möglichkeit zum Zusammenleben abgebaut werden. Gut und schön, aber was haben wir Abendländer davon, wenn das illustriert wird mit den Moralvorstellungen Japans, und dann noch mit uralten, die längst überholt sind? Kein Wunder, dass der Streifen in Japan nicht besonders geschätzt wurde. Er hatte den Japanern der Mitte des 20. Jahrhunderts nichts Wichtiges zu sagen. Schon eher ein Wunder, dass er bei uns höchst erfolgreich war und nach wie vor als einer der besten Filme der Filmgeschichte gilt. Folgen wir doch lieber dem Appell dieses Films und gestehen uns ehrlicherweise ein, dass wir den Film aufgrund seiner Dramatik und Exotik überschätzt haben.

Ein großes Missverständnis. Haben wir doch nicht einmal den vollen Genuss des schön gefilmten und wirklich unterhaltsamen Spiels. Die Synchronisierung ist nach der englischen Fassung gemacht worden und musste, um lippensynchron zu wirken, viel zu oft den Text verfälschen. Da waren die kurzen deutschen Untertitel schon brauchbarer. Davon abgesehen ist bekannt, dass es bei exotischen Filmproduktionen nicht reicht, sie sprachlich zu synchronisieren. Denn die gesprochene Sprache ist zweit- bis drittrangig gegenüber der Körpersprache. Doch die gesamte Aussagekraft von Mimik und Gestik bis hin zu dem äußerst exaltierten plötzlichen Lachen der Figuren und ihren beinahe antik anmutenden Bocksprüngen bleibt uns westlichen Zuschauern verschlossen.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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