602. Ausgabe

Ganz deutlich, die westliche Welt durchlebt im Moment nicht nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch eine Krise der repräsentativen Demokratie. Was mit der APO, der außerparlamentarischen Opposition, einen frühen Vorläufer hatte, das führt über die Stuttgarter Wutbürger zu den Massenprotesten der jungen Spanier in Madrid und der jungen Israelis in Tel Aviv. Der Grund ist stets derselbe: Die Bürger, permanent von allen Seiten mit Informationen zugeschüttet und selbst neuerdings im Besitz technischer Mittel zur Massenbeeinflussung, haben das Vertrauen verloren zu den abgehoben agierenden Politikern, die sich in erster Linie um ihren Machterhalt kümmern und dabei nicht mehr vor Korruption und Nepotismus zurückschrecken. Die Bürger wollen ihre Lebensumstände selbst in die Hand nehmen. Darauf aber wissen die Demokraten sich bislang nicht einzustellen.

Ich traue meinen Ohren nicht, wenn ich das höre: In Russland gilt Bier von jetzt ab als ein alkoholisches Getränk. Tatsache! Aber sind wir nicht genauso vernagelt, wie die Russen es bisher waren? Wir lesen in der Presse und in offiziellen Mitteilungen nach wie vor: Alkohol und Drogen. Als ob man auf diese Weise etwas daran ändern könnte, dass der Alkohol eine der gefährlichsten und süchtig machenden Drogen ist.

Belgien war lange Zeit vorbildlich: Herrlich, diese voll beleuchteten Autobahnen. Damit ist jetzt Schluss. Zu teuer. Dagegen ist wohl keine Sparmaßnahme, dass die Pommes Frites jetzt immer öfter fettfrei gegart werden. Das habe mit der Enge der schönen mittelalterlichen Städte und des immer noch nicht ausreichenden Büroangebots in Brüssel zu tun, sagt man.

Re-Nobilitierung eines Landes: Jetzt hat Montenegros Parlament Prinz Nikola II., dem Enkel des ersten und letzten montenegrinischen Königs Nikita, den Weg zurück in die Königsstadt Cetinje geebnet und ihm Teile des früheren Familienbesitzes zurückgegeben sowie eine kleine Apanage zugesprochen. Ob ihm nun auch die Villa Biljarda neben dem Königspalast gehört, von der sich sein 1918 vertriebener Großvater so ungern getrennt hatte? Die Attraktion der Biljarda war ein besonders schwerer Billardtisch, der im Jahr 1830 unter unglaublichen Schwierigkeiten auf einem Saumpfad für Maultiere über den Lovčen-Pass zu der Hochebene von Cetinje heraufgeschafft worden war und dort wie ein Wunderwerk des Himmels bestaunt wurde. Irgendwann auch von mir. Wie durch ein Wunder ist dieses prächtige Importgut und Symbol der Königsmacht in der Zeit des Sozialismus verschwunden. Trotzdem macht Cetinje eifrig Werbung für sich als Billardstadt.

Nach Angaben des Population Reference Bureau in Washington D.C. waren in den modernen Industrieländern 35 % der heute 20-24-jährigen Frauen schon mit 18 Jahren verheiratet. In den ärmsten Entwicklungsländern aber 40-45 %. Das erklärt die weit höhere Reproduktionsrate der Menschen in der Dritten Welt. Und ich verstehe: Armut schränkt das breite Band der äquivalenten  Genussmöglichkeiten Kopulation, Macht, Erkenntnis, Ruhm, Reichtum, Kunst, Reisen, Heiligkeit, Popularität, Ansehen, Essen und Trinken auf einen einzigen Faktor ein, auf den billigsten: Kopulation, wodurch Kinderreichtum unvermeidlich wird.

WWW. Wir werden weniger, das gab das Statistische Bundesamt bekannt. Im Jahr 2010 starben von den Einwohnern Deutschlands rund 181 000 mehr als geboren wurden. Gleichzeitig zogen 798 000 Menschen nach Deutschland, während 671 000 das Land verließen. Der kleine Wanderungsgewinn konnte das Geburtendefizit schon rein numerisch nicht ausgleichen. Ob er nach anderen Kriterien (Bildung, sozialer Status, staatsbürgerliches Engagement, Rechtstreue, Geschäftstüchtigkeit) positiv oder negativ zu sehen ist – beides ist möglich –, wird sich erst nach vielen Jahren herausstellen.

Gottlos war einmal ein schlimmes Schimpfwort und für viel zu viele Menschen das Todesurteil. Jetzt aber lese ich, dass es in Frankfurt am Main einen Gottlosenstammtisch gibt, am 10. August im Bürgerhaus Bornheim. Und am 19. August gibt es im Café Konrad in Hannover ebenfalls einen Gottlosenstammtisch. Das klingt alles so gutbürgerlich, so selbstverständlich. Da fehlt nur noch der Hinweis: Bitte legere Freizeitkleidung.

Unser Fernsehkonsum wird gemessen, allerdings nur in Minuten pro Tag, nicht in Verblödungsgraden (Grad VB), weil die Fernsehmacher keine Publizität für ihre enormen Erfolge in VB-Graden wünschen. Immerhin erfahren wir, dass in 27 europäischen Ländern der durchschnittliche Fernsehkonsum im letzten Jahr auf 226 Minuten pro Tag gestiegen ist. Also gut dreidreiviertel Stunden, die jeder erwachsene Europäer jeden Tag vor dem Bildschirm verbringt, statt Schwarzarbeit zu leisten oder sich in Drogengeschäften zu betätigen oder Sexualdelikte zu begehen. Wir sollten den Fernsehkonsum noch mehr fördern!

Der Appell zu verstärktem Trinken, den wir seit Jahrzehnten auf die Ohren kriegen, hat dazu geführt, dass jetzt auch schon in europäischen Ländern das amerikanische Bedürfnis eingeführt wurde, an jedem Schulranzen und jedem Rucksack und in jedem Auto eine besondere Halterung für Flaschen zu finden. Erst mit großer Verspätung kommt man dahinter, dass es für den Mehr-Trink-Appell keine wissenschaftliche gesicherte Begründung gibt. Manche Wissenschaftler warnen jetzt schon vor dem gefährlichen Natriummangel durch Ausschwemmen nach zuviel Flüssigkeitszufuhr und raten dazu, sich beim Trinken wieder – wie in den letzten paar zehntausend Jahren – nach seinem Durst und der Menge des abgesonderten Schweißes zu richten. Das ist natürlich nicht im Interesse der Getränkeindustrie, die jetzt vor einem Rückfall in die Steinzeit warnt. Eine ernstzunehmende Warnung, sind die Steinzeitmenschen, diese Trinkmuffel, doch alle gestorben.

Der Verleger meines Buches „Favoritin zweier Herren“ gratulierte mir gestern telefonisch, mein Buch sei ja hochaktuell. Weil es den Hintergrund der geistigen Wirrnis ausführlich darstellt, die den Attentäter von Oslo (hier nicht mit Namen genannt, um ihn nicht noch mit Prominenz zu belohnen) dazu gebracht hat, als vermeintlicher Kreuzritter mehr als siebzig Menschen zu ermorden. Das Buch gehöre also unbedingt neben der Tageszeitung auf den Tisch eines jeden aufgeschlossenen Zeitgenossen, meinte mein Verleger. Dem kann ich nur zustimmen!

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