Neun Portionen Portugiesisches (1999)

Sintra, nahe der äußersten Westspitze unseres Kontinents, hat für jeden etwas Besonderes zu bieten. Für den Kitschfreund den Penapalast, eine Art Neuschwanstein, nur zu ertragen, weil er den weitesten Ausblick über Land und Meer bietet. Für den historisch Interessierten die Königliche Sommerresidenz mit ihrer imponierenden Küche, und in diesem Stadtpalast für das Auge des Kunstfreundes eine Ansammlung der schönsten Azulejos, die auf der Iberischen Halbinsel zu sehen sind. Für den Naturfreak den Monserratepark, ein ehemaliger Garten Eden, mit seinen leeren Moderbauwerken, in einem Dschungel von wildwuchernden Gewächsen untergetaucht, die ebenso längst vermoderte Gartenfreunde von allen Erdteilen herangeschafft hatten. Und für den, der gesunde Beine und genug Phantasie hat, die Maurenburg im Felsenmeer überm Atlantik. Zwischen den abgeschliffenen Felsklötzen mit ihrer moosigen Tarnung, im tropfnassen Wald wenig mehr als nichts. Dabei war das einer der letzten Stützpunkte der Mauren, als die Ritter der Reconquista dem Islam auf der Iberischen Halbinsel den Garaus machten. Längst verhallt der vielstimmige Hilferuf, der zu dem einen und zu dem anderen Gott aufstieg, längst vergessen das Blut der einen, das sich mit dem Blut der anderen vermischte, wie es hektoliterweise im Gestein versickerte, um vielfach ausgefiltert als Quellwasser im Meer seine Ruhe zu finden.

Porto – reinfahren und verrückt werden. Auto an Auto neben Auto vor und hinter Auto. Bis du nicht mehr weißt, ob du den Vorwärts- oder den Rückwärtsgang reinhauen sollst. Oder einfach aussteigen. Was aber nicht möglich ist, weil kein Platz ist, die Autotür zu öffnen. Und wenn du es doch irgendwann geschafft hast, zu deinem Hotel zu finden, wenn du das Zimmer zu deinem Zimmer machst, mit Jackeabwerfen und Fensteraufreißen, um einen ersten Blick über die Altstadt zu  schicken, dann verstehst du plötzlich: Es  ist ein unschätzbarer Vorteil, wenn Städte mindestens einmal in jedem Jahrhundert durch einen Krieg zerstört werden. Oder durch ein Erdbeben, einen Großbrand. Dann kann mit mehr Verstand neu gebaut werden. Ja, ganze Partien Portos gehören abgerissen, wenn schon keine britischen Bombergeschwader kommen, die Erde stillhält und die feuerpolizeilichen Maßnahmen so effektiv sind. Doch stehst du am Abend auf dem Hauptplatz der Stadt, der Praca da Liberdade, und schaust zu dem stolz illuminierten Rathaus hinauf, dann siehst du rechts und links die flankierenden Patrizierhäuser, so prächtig, so altehrwürdig, daß du nur noch stöhnen kannst: Zum Glück nicht zerstört.

Am Nebentisch im Café Majestic. Das Mädchen von Porto. Mit dem sonderbar ausdrucksstark geschwungenen Mund, so fremd, daß jeder Satz, den sie spricht, ein erregendes Schauspiel wird. Besonders schön beim leichten Lächeln einer Gioconda. Wenn ich nicht wüßte, Mädchen von Porto, daß Dir dieselben Ausdrucksmittel auch zum Schmollen, Schmähen und Mißachten dienen, ich könnte mich in Dich verlieben. In diese kleine Nase, die mich lebhaft annüstert, hat sie doch längst mein Interesse gewittert. In die beiden schwerschwarzen Brauenbögen. Und in die dunklen Augenstrudel darunter, so neugierig wie guterzogen. Ein ständiges Hin und Her zwischen Sehenwollen und Wegsehenmüssen. Ja, fremd zieht fremd an. Mach dir nichts draus, Mädchen von Porto. Die beinah britische Distinguiertheit, wie sie die Männer hier zeigen, die schaffst Du nie.

Die Geschichte vom Sandmännchen, hier in Porto wurde sie als schönes Märchen entlarvt. Weil Barbara vor mir dahinging wie das Sandmännchen, in diesem kurzen, weiten Mäntelchen, die Arme abstehend runterhängend, so ging sie und ging und ging, mal vor, mal neben, mal hinter mir her. Straßauf und straßab, stundenlang. Kann man sie doch nur zu Fuß erkunden, diese von Autos überkochende Stadt. Aber am nächsten Morgen, da rieb ich erstaunt die Augen, rieb und rieb, wie schon lange nicht mehr. Und rieb sie mir aus den Augenwinkeln, die Dreckbrocken, die mir das Herumlaufen in den Straßen Portos eingebracht hatte – nicht das Sandmännchen.

Ich bin verliebt in Lissabons Straßenbahn. Dieses Grazile, diese vornehm tastende Art, wie sie sich bergauf und bergab bewegt. Auf diesen kleinen, extrem eng gesetzten Primaballerinenfüßchen. Stets darauf bedacht, die alten Häuschen nicht zu erschüttern, zwischen denen sie sich tänzelnd ihren Weg sucht. Mag der eine oder andere von einem extrem kurzen Radstand sprechen, vom entsprechend kleinen Wendekreis, was für ein Behelf, wenn es darum geht, Eleganz zu beschreiben. Die Nr. 28, sie ist für mich die Schöne der Stadt. Eine ungekrönte Miss Lissabon. Wie sie sich ständig gegen die Anpöbeleien der Straßenjungen wehren muß. Mit ihrer hellklingenden Stimme ist sie dem Brüllhupen nicht gerade überlegen, nein, aber sie wirkt damit doch so fremd, daß man aufhorcht. Sie kann in jedem Moment sicher sein, daß man sie sieht. Wenn sie sich auf den Weg macht, auf ihren Weg, dem sie längst ihre Spur eingedrückt hat, von rechts nach links und wieder nach rechts über die schmale Gasse mäandrierend, wenn sie sich auf den Weg macht, staunt jeder, der sie noch nicht kennt. Wie sie sich an den dreist nach ihr greifenden Hauskanten und Dachrinnen, Balkons und Erkern vorbeiwindet. Mit leichtem Hüftschwung, mit einer sanften Drehung. Und streift dabei nicht eine einzige Markise. Ihre Bewunderer kommen aus aller Welt. Sie machen sich ganz schmal, drücken sich scheu und rücksichtsvoll an die Hauswände, wenn sie kommt. Und schauen ihr mit großen Augen nach und nehmen sich fest vor: Die muß ich kennenlernen.

Am Samstag war der Platz der Freiheit in Lissabon schwarz von Schwarzen. Sie standen am Vormittag da, und sie standen am Nachmittag da. Und am Abend immer noch. Standen einfach nur herum und unterhielten sich. Und ich überlegte: Vielleicht könnte man ihre Präsenz auf diesem Platz und auf dem benachbarten Rossio als eine Mahnwache deuten. Schwarz auf Grau den Portugiesen vor Augen gehalten: Uns gibt es auch noch. Uns verdankt Ihr Eure frühere Größe, auf die Ihr so stolz seid. Uns auch verdankt Ihr Euren Wohlstand, der sich in den verfallenden Prachtfassaden Eurer Häuser und in der kunstvoll schmucken Pflasterung Eurer Uralt-Bürgersteige zeigt. Daß wir Euch nirgendwo gut genug sind, außer auf dem Bau und als Küchenhilfen, als Zimmermädchen, das soll Euch und den fremden Besuchern endlich auffallen. Nicht in der Hotelrezeption, nicht im Restaurant dürfen wir arbeiten. Kein einziger schwarzer Fleck im Bild. Aber am Samstag auf dem Platz der Freiheit und dem Rossio, da sind wir zu sehen. Und wenn Ihr es auch schafft, einfach über uns hinwegzusehen, die fremden Besucher übersehen uns nicht.

Der Nationalpalast in Mafra, ein Monstrum wie der Escorial in Spanien, ist nur mit Zahlen  zu bezeichnen, will man nicht unhöflich sein und fremden Nationalstolz beleidigen, von portugiesischer Großmannssucht sprechen. Immerhin ein Bauwerk mit 220 Metern Kantenlänge im Quadrat und mit rund 1200 Räumen Inhalt. 50.000 Männer sollen hier zum Frondienst gezwungen worden sein. Doch der Palast hat nie für längere Zeit als Wohnung gedient. Konnte ja auch nicht bewohnt werden, wie dem Besucher schnell klar wird. Ist doch das Lesezimmer einer der allerkleinsten Räume des Gebäudes. Und dann noch viel zu weit weg von der Bibliothek, die mit ihren 30.000 Bänden schon in der Lage gewesen wäre, für einige Jahre die gähnende Leere zu füllen. Wurde nichts draus. So hat das Monstrum nur als Jagdschlößchen dienen dürfen.

Lissabon hat sein attraktives Vorgärtchen Estoril, das ehemals mondäne Bad der Fürsten, später ein Treffpunkt der Spione und jüdischen Flüchtlinge. Heute ist es bloß ein langer Strand zwischen Brandung und Bahnlinie, Hotellerie und Spielcasino. Aber noch rechtzeitig bekam Estoril sein attraktives Vorgärtchen Cascais. Dieses noch maurisch anmutende Städtchen mit seinen eng verwinkelten Gassen voller Geschäfte und Lokale an der Klippenküste ist zwar zum Baden weniger geeignet. Doch hat es ein Vorgärtchen, das alle Parkplatznöte wett macht  Das ist der Park um den Turm von San Sebastian und die Villa Guimaraes. Dort umherspazieren in der Hochzeit der Eukalypten. Wenn sie den Boden vollgestreuselt haben mit ihren Samenkapseln, diesen weißgepuderten Laternchen. Ausgeknipst, düster. Doch da und dort schon aufgesprungen, lassen sie einen Quast von strahlendweißen Härchen aus sich herauswachsen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte nicht vermeiden, auf die Laternchen zu treten, benommen von ihrem intensiven Duft.

Fadolokal in Cascais. Erst essen und trinken und lange warten. Doch dann die Musici. Und schon wird die Szene zum Gottesdienst. Der Sänger mit den beiden Gitarristen nicht mehr im Altarraum, sondern in engem Kontakt mit der Gemeinde, wie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorgeschrieben. Schließlich sind wir in einem streng katholischen Land. Ein festlich drapiertes Publikum. Die Oberkörper der meist älteren Damen, reich mit Schmuck behängt, schwingen wonnig mit der Musik, freizügig gezeigter Busenansatz hebt und senkt sich wie bei Flut. Und die Herren, mit buschigen Schnauzbärten über dem Genießermund und dem glattglänzenden Kinn unter der längst viel zu hohen Stirn, sie zeigen das Bild verlorener Kolonialpracht. Wie ihre Lippen stumm mitsingen, die vergangene Größe beklagend. Oder verlorene Liebe und das unbarmherzige Schicksal und was es alles gibt an Sentimentalitäten. Die Gläubigen kennen die Texte und fallen beim Refrain begeistert in den Gesang ein. Das Miteinbinden der Gemeinde, wie das Zweite Vatikanische Konzil das nennt. Letzte Woche ist die Kolonie Macao an China zurückgefallen. Im Fernsehen war die Einholung der portugiesischen Flagge nicht zu übersehen. Die  portugiesische Gitarre, metallisch hart, tiriliert vogelfröhlich, der Sänger trägt sein Lied ernsthaft getragen vor, und die Augen rundum, sie strahlen in Weltschmerz. Die gelegentlichen Zwischentöne erinnern mich an maurische Musik. Aber ich werde mich hüten, das auszusprechen. Der Sänger wie seine Gemeinde, sie würden das weit von sich weisen. So weit, wie sie die Mauren fortgejagt haben.

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