Carl Haensel: Das war Münchhausen

Hommage an einen großen Fabulierer

(Carl Haensel: Das war Münchhausen – Roman aus Tatsachen, Verlag J. Engelhorns Nachfolger, Stuttgart 1933, 222 Seiten, mit einem Nachwort des Autors, neu aufgelegt 1961)

Den aus Bodenwerder im Weserbergland stammenden Offizier und Gutsbesitzer Freiherr Karl Friedrich Hieronymus von Münchhausen (1720-1797) hat die Nachwelt sehr zu Unrecht herabgewürdigt mit dem Titel Lügenbaron. Und die phantastischen Kriegs-, Jagd- und Reiseerlebnisse, die er seinen Freunden am Biertisch erzählt hat, hat sie ebenfalls zu Unrecht als Münchhauseniaden abgetan und zum Kinderbuch gemacht. Umso berechtigter war, dass sich mit Carl Haensel nach Karl L. Immermann (1839) und Paul Scheerbart (1906) erneut ein ernstzunehmender Romancier mit diesem Mann beschäftigt hat. Haensel versucht, in Romanform aus den eruierten Lebensumständen und mit viel Einfühlungsvermögen das wahre Bild Münchhausens deutlich werden zu lassen. Immerhin handelt es sich bei Münchhausen um einen Fabulierer von ungewöhnlichem Format, und Fabulierer sind, das muss man sich in Erinnerung rufen, die Begründer und Stammväter aller Literatur. Schon lange vor berühmten Erzählern wie Plutarch und Lukian haben namenlos gebliebene Männer an den Toren orientalischer Städte gesessen und den Passanten ihre Geschichten erzählt. Sie hatten ein Grundbedürfnis des Menschen erkannt, nämlich sich etwas erzählen zu lassen, und sie haben dieses Bedürfnis bedient, im allgemeinen sogar so selbstlos, dass sie hinter dem Erzählten zurücktraten und anonym blieben.

Diese Selbstlosigkeit zeigte auch Hieronymus von Münchhausen, indem er zum Vergnügen seiner Freunde erzählte, ohne anderes Honorar zu erwarten als das brüllende Gelächter, ohne je daran zu denken, seine Geschichten niederzuschreiben oder sogar zu veröffentlichen. Als 1781 ein anonym gebliebener Autor eine Sammlung von 16 Münchhausen-Geschichten in einem „Vademecum für lustige Leute“ veröffentlichte, war Münchhausen sehr verärgert, aber auch wehrlos, weil es noch keinen Schutz des Urheberrechts gab. Dasselbe galt, als einer seiner Zuhörer, nämlich der Museumsleiter Rudolf Erich  Raspe, das erste Buch mit Münchhauseniaden herausgab. Anonym und in London, wohin er sich abgesetzt hatte, um der Verhaftung wegen Unterschleife zu entgehen. Er hatte wertvolle Stücke aus dem von ihm geleiteten Museum verkauft, um seine Schulden loszuwerden. Raspes Buch erschien 1785 unter dem Titel „Baron Münchhausen’s Narrative of His Marvellous Travels and Campaigns in Russia“. Gottfried August Bürger übersetzte dieses Buch und ergänzte es mit weiteren Geschichten. So wurde es, immer wieder bearbeitet und ergänzt und in andere Sprachen übersetzt, zu einem literarischen Welterfolg.

Wohlgemerkt, die Bezeichnung als Lügengeschichten, die sich bald eingebürgert hatte, ist völlig falsch. Handelt es sich doch nicht um Lügen, also um etwas Unwahres, das für wahr ausgegeben wird. Münchhausen hat angebliche Erlebnisse erzählt, die so drastisch übertrieben waren, dass ihre absolute Unmöglichkeit für jeden Zuhörer offensichtlich war. Münchhausen war also kein Lügenbaron, denn er log nicht, er war ein grandioser Fabulierer, der mit seinen Erzählungen den Erlebnisbericht ad absurdum führte. Damit war er ein Kritiker der Erkenntnisphilosophie.

Dabei hatten die Münchhauseniaden vielfach einen realen Hintergrund. Denn Münchhausen konnte auf seine Erfahrungen aus fast zwanzig Jahren Hof- und Militärdienst in Braunschweig und Russland einschließlich der Beteiligung an zwei Türkenkriegen zurückgreifen. Als er seine militärische Karriere beendete, im Rang eines Rittmeisters, war er mit der lettischen Adligen Jacobine von Dunten verheiratet. Das Paar lebte einige Jahre in dem Städtchen Dunte nördlich von Riga, wo heute noch ein Museum an Münchhausen erinnert. In Dunte entwickelte Münchhausen die Gewohnheit, in geselliger Runde seine Geschichten zu erzählen, die er nach der Heimkehr nach Bodenwerder beibehielt.

Erst in der öden Zeit nach dem Tod seiner Jacobine, nach sechsundvierzig glücklichen Ehejahren, als Hieronymus von Münchhausen als ein schrullig werdender Greis in seinem Gutshaus in Bodenwerder zu versauern droht, immer in Geldnot und in Rechtsstreitigkeiten mit dem Bürgermeister und dem Gemeinderat, setzt der Tatsachenroman von Carl Haensel ein. Münchhausen als ein gescheiterter Mann. Die großen Zeiten liegen hinter dem Baron, alles Schöne ist nur noch Vergangenheit. Was ihm geblieben ist, das ist bloß der zweifelhafte Titel eines Lügenbarons. Der Autor Haensel macht – sehr mutig –  eine nicht gerade vielversprechende Figur zum Protagonisten seines Romans. Die ist zunächst nur Mitleid erregend. Aber dann kommt noch einmal das ganz überraschende Aufblühen des alten Freiherrn von Münchhausen, dem dann das endgültige Scheitern folgen sollte. Eine Geschichte, die zwar den Namen Münchhausen trägt und so grotesk ist wie die Abenteuer, die der Baron früher zu erzählen pflegte, die dennoch keine Münchhauseniade ist, sondern bittere Wahrheit.

Hier nur kurz angedeutet der Inhalt des Romans: Der alte Münchhausen lernt zufällig die brave Bürgerstochter Bernhardine kennen, der die Begeisterung des alten Adligen für sie schmeichelt. Ihren Eltern nicht minder. So kommt, was niemand erwarten konnte: der Vierundsiebzigjährige heiratet die Zwanzigjährige. Doch durch Intrigen und Missverständnisse wird aus dieser Ehe die Höllenfahrt eines jahrelangen Scheidungsprozesses, dem Münchhausen schließlich erliegt.

Carl Haensel, geboren 1889 in Frankfurt am Main und gestorben 1968 in Winterthur, war mit gleicher Hingabe Rechtsanwalt und Schriftsteller. Sein erfolgreichstes Buch, zweimal verfilmt, ebenfalls ein Roman nach Tatsachen, war „Der Kampf ums Matterhorn“. In seinem Münchhausenbuch versagt er es sich, die Münchhauseniaden zu bringen, nur gelegentliche kurze Andeutungen beziehen sich darauf. Dafür zeigt diese Hommage an einen großen Fabulierer den Erzähler Carl Haensel besonders deutlich in seiner erstaunlichen Doppelbegabung. Denn hier lässt er sich immer wieder zu begeisterten Stimmungsbildern hinreißen, in einer Sprache, die souverän alle Klischees vermeidet, um dann den Scheidungsprozess so ausführlich und so überlegen darzustellen, wie das nur ein versierter Jurist bringen konnte, alle Winkelzüge der Anwälte aufdeckend. Womit Haensel sich würdig in die große Tradition der Dichterjuristen einreiht.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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