Ziel: Brocken (2003)

Zugegeben, was Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Raabe, Hermann Löns und Heinrich Heine so ausführlich und stimmungsvoll beschrieben haben, die Besteigung des Brockens, des höchsten Berges Norddeutschlands, heute ist das im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Denn man fährt von Wernigerode mit der Schmalspurbahn, der Größten der Kleinen, wie sie sich stolz nennt, hinauf. Für 22 € hin und zurück. Pauschalpreis, ohne Anspruch auf einen Sitzplatz, wie auf dem nostalgisch kleinen Fahrkärtchen besonders klein aufgedruckt. Also eingeklemmt in eine Hundertschaft beinahe expeditionsmäßig ausgerüsteter Menschen – Wanderstiefel, Rucksäcke,  Sonnen- und Regenschutz, Teleskopstöcke und Ferngläser neben den diversen Kameras, die Aufmachung ist das Ziel – zunächst den Kampf um einen Sitzplatz durchstehen, den alle die verloren haben, die auf der offenen Plattform stehen bleiben müssen, wo der Aufenthalt laut Beschriftung verboten ist.
In Schierke ausgestiegen, um zu Fuß den Rest zu schaffen. Etwa Zweidrittel des Aufstiegs in bequemer Enge hinter sich gebracht, jetzt aber noch gut sechseinhalb Kilometer aufwärts. Mit dem Fahrkärtchen in der Tasche trotzig die Bahn betrogen. Und dabei den Satz bestätigt gefunden: Der Weg ist das Ziel. Denn dieser Marsch durch den Hochwald über die tausend Felsbrocken und freiliegenden Wurzeln war das eigentliche Brockenerlebnis. Und er machte den Namen des Berges verständlich, der ja zunächst Brockenberg geheißen hat. Tatsächlich ein wilder Haufen von abgelagerten Gesteinsbrocken aller Kaliber. Also auf jeden Tritt achten, dass man ja nicht umknickt.

Offiziell liegt heute die Romantik der Brockenfahrt in dem Begriff Schmalspurbahn, in dem Schnaufen und gelegentlichen Pfeifen der kleinen schwarzen Lok und ihrem gewaltigen Ausstoß an weißem Qualm, der sich bei besonderen Anstrengungen gern zu kohlendunklen Wolken wandelt. Der Wald nimmt es gelassen hin. Was bleibt ihm anderes übrig? In jeder Kurve hängen die Kameras über, um den eifrigen Ziehkäfer auf frischer Tat zu erwischen. Vielleicht hätte ich einen der Tage wählen sollen, an dem die Brockenbahn mit ihrem historischen Fuhrpark auf den Berg hinaufächzt. Noch eindrucksvollere Bilder. Aber dann wäre ich untergegangen in der Begeisterung der Eisenbahnnostalgiker, denen nicht der Weg das Ziel ist, sondern das Fortbewegungsmittel.

Die Brocken – der Brocken. Der Brocken ist geschafft, sobald man die Brocken hinter sich gelassen hat. Die Vorstellung, dass man die sämtlichen über die Hänge des Brockens gestreuselten Brocken wieder hinaufwälzen und oben auftürmen würde, ergibt einen imponierend hohen Berg, beinahe schon alpin. Oben, auf der Tonsur mit ihren paar hässlichen Aufbauten, war das besondere Brockenerlebnis die Erbsensuppe, die es in dem so beschrifteten „Touristensaal“ gab. Die Bezeichnung für das Restaurant so DDR-gefärbt, dass die Suppe noch nicht raststättenmäßig geschmacklos, sondern kleinbürgerlich deftig sein mußte. Und auch war.

Ein bisschen herumstöbern im Brockenmuseum. Den vier Großkopfeten unter den Dichtern, die den Brocken besucht haben, in kleinen Bildchen und Kurztexten an der Wand begegnet, die drei Meter hohe Mauer, die von den russischen Besatzern rund um das Spionagenest auf dem Brocken errichtet worden war, noch in einem bedrohlich lebensgroßen Rest aufgebaut, die Kalaschnikow daneben, Funkgeräte und dergleichen technischer Klimbim von gestern, ein bisschen Fauna und Flora und Wetterkunde, das war’s dann auch schon. Im übrigen kann man sich nicht oft genug dazu gratulieren, einen der ganz wenigen Tage erwischt zu haben, an denen sich ein freier Blick öffnet. An 306 Tagen des Jahres ist der Brocken in Wolken und Nebel versteckt, steht da als generelle Entschuldigung angeschlagen. Und dass es an diesen Tagen für den Zugang zur Aussichtsplattform einen besonderen Schlechtwettertarif von bloß 1 € gibt. Geschenkt, das Wetter war so gut, dass man auf den Ausguck verzichten konnte: noch billiger.

Heinrich Heine schaut von seinem Gedenkstein aus bei jedem Wetter in die Weite, ein feiner Hinweis auf die Vielseitigkeit des Lyrikers und Spötters. Da erinnert man sich: Die Namen der anderen Brocken-Berühmtheiten waren doch schon unten in Wernigerode auf Schritt und Tritt zu lesen. Wenn auch leicht verfremdet. Ein Weg, der bezeichnet ist als Hermann Löns-Weg. Eine Schule, an der groß dran steht: Wilhelm Raabe Schule. Da fragt man sich, wie die Schulkinder jemals richtiges Schreiben lernen sollen. Und unterdrückt das schnell als zu schulmeisterlich. Dazu passte das Frühstück im „Café J. Goethe“. Aha, verstehe. Die amerikanische Mode, den zweiten Vornamen nur abgekürzt aufzuführen, soll hier wohl auf die Spitze getrieben werden. Man will ihn einfach ganz weglassen. Nur dass man nicht weiß: Wolfgang ist der Rufname Goethes gewesen, nicht Johann. Den zweiten Vornamen Johann hat er nur als Zugabe bei der Taufe bekommen, wie es damals üblich war – aus Hochachtung für Johannes den Täufer – vorangesetzt, genau wie bei Johann Joachim Winckelmann und Johann Sebastian Bach und und und.

Rechtzeitig auf dem Bahnsteig stehen und sich in der vordersten Reihe halten, um die Chance auf einen Sitzplatz zu erhöhen. Und dann, kaum den Neuankömmlingen Zeit zum Aussteigen lassend, ellbogeneifrig hineingedrängt und den Hintern besitzergreifend auf den nächstbesten Platz geworfen. Und die Augen geschlossen und versucht, sich an die Schilderungen zu erinnern, die man von Goethe oder Heine gelesen hat. Doch der freundliche Mann auf der Sitzbank gegenüber beklagt die verspätete Abfahrt – die Sportschau verpasst – und fragt, ob man vielleicht gehört habe, ob Michael Schumacher das Formel-1-Rennen gewonnen hat oder nicht, und wie Bayern München gespielt hat. „Nein, bedaure. So was weiß ich nicht.“

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