Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit

Zeitspiel

(Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit, Roman, Verlag S. Fischer,  Frankfurt a. M. 2016, 303 Seiten, ISBN 978-3-10-082951-1)

 

Der Roman spielt in dem verspielten 18. Jahrhundert, als die Kunstfertigkeit von Uhren- und Automatenherstellern quasi das Vorspiel bot für die revolutionäre industrielle Produktion des 19. Jahrhunderts. Der berühmteste dieser Bastler von Laut gebenden Tieren, lebendig scheinenden Puppen und anderem teurem Herrenspielzeug, der Uhrmacher Cox aus England, eine authentische Figur, wird mit seinen drei wichtigsten Mitarbeitern vom Kaiser von China eingeladen, in seine Hauptstadt zu kommen. Cox weiß, dass der Kaiser schon diverse Beispiele seines Könnens besitzt, die er von der Britischen Ostindien-Kompanie bezogen hat. Deshalb hat er gut verpackt weitere Beispiele seiner Automatenkunst dabei. Zu seiner Überraschung zeigt man in Peking keinerlei Interesse an diesen Apparaten. So rätselt Cox vergebens herum, wozu der Kaiser von China ihn in viele Monate langer Fahrt um die halbe Welt hat segeln lassen.

 

Das erfährt Cox – genau wie der Leser – erst, nachdem er mit viel Geduld monatelang in der Verbotenen Stadt an Verlegenheitsaufträgen gebastelt hat – beziehungsweise nachdem man Zweidrittel des Buches gelesen hat. Um diese Zeit nicht auf unfaire Weise zu verkürzen, soll hier nicht verraten werden, welchen Auftrag Cox schließlich erhält. Nur soviel: Er muss das Unmögliche möglich zu machen versuchen. So wird, was lange Zeit ein Geduldspiel ist, schließlich zum Spiel mit dem Feuer, und als deutlich zu werden scheint, dass es um Leben und Tod geht, zum Spiel auf Zeit. Dass dabei auch die verschiedenen Formen von sogenannter erneuerbarer Energie gedanklich durchgespielt werden, schlägt eine Brücke vom Damals zu unserer Zeit.

 

Cox ist eine imponierende Figur, den man als Leser gerne begleitet. Durch seine trüben Erinnerungen wie auch durch seine kühnen Ideen gut unterhalten, sofern man es schafft, sich für die Sprache dieses Buches zu erwärmen. Eine Sprache ohne Schnörkel und billige Effekthascherei. Sachlich, beinahe wie Chronistensprache. Dabei so gepflegt wie anspruchsvoll. Keine vereinfachte Sprechweise à la Leichte Sprache und nur sehr selten einmal wörtliche Rede. Hier wird Erzähltext geboten, der noch mit großer Selbstverständlichkeit die Stufen des klassischen lateinischen Satzbaus hinauf und hinunter läuft, was dazu führt, dass so mancher Absatz aus einem oder höchstens zwei Sätzen besteht und trotzdem ein Genuss sein kann. Das heißt, dieser Roman setzt auf Leser, die noch gewohnt sind zu lesen. Deshalb hat der Verlag auch keinen Anlass gesehen, das Buch in sogenannter reformierter Rechtschreibung zu setzen. Und wer die übliche Liebesgeschichte als Grundgerüst braucht, muss viel Phantasie investieren, der Happy-End-Fan ebenso.

 

Starke Nerven brauchen Leser bei den mehrfachen Schilderungen von grausamen Bestrafungen. Wenn das auch zum Bild des chinesischen Kaisertums in jener Zeit gehört, kommt doch der Verdacht auf, dass der Autor Konzessionen an die Rezeptur moderner amerikanischer Literatur macht: Nur ja kein Sex, dafür umso mehr Brutalität.

 

Es geht um die Zeit, und der Lauf der Zeit ist ein sehr langsamer. Die Zeit, die der Leser mit diesem Buch verbringt, wird ihm zu einer Zeit der Anregung, nämlich sich selbständig Gedanken zu machen über das Grundphänomen Zeit, das neben dem anderen Grundphänomen Ort unser Leben bestimmt. Der Ort der Handlung oder richtiger: die Orte der Handlung werden eingehend geschildert, vom Kaiserkanal über die Verbotene Stadt und die Große Mauer bis zur Sommerresidenz Jehol in der Mongolei. Da lohnt es sich, nicht nur Satz für Satz zu lesen, sondern sogar Wort für Wort. Was auch für die stets liebevoll ausgemalten Wetterbedingungen gilt. Das alles ist für Leser, die schon in den beschriebenen Gegenden waren, ein schöner Rückblick, für alle anderen ein faszinierendes Bild der Fremde.

 

Mehr zum Phänomen Ort kann man von einem Roman nicht verlangen. Auch nicht von dem Autor dieses Buches, der sich als sein Thema die Entlarvung der Zeit vorgenommen hat. Wie er der Zeit die Maske der Alltäglichkeit herunterreißt, wie er sie völlig nackt und damit furchterregend dastehen lässt, stehen geblieben, nur noch aus Andeutungen und behutsamen Worten erkennbar, das ist der eigentliche Ertrag des Leseerlebnisses – mehr als die 22,- Euro wert, die als Ladenpreis auf dem Buch stehen.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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