Ungarn auf den zweiten Blick (2010)

Schönes Györ, dass du einmal Raab warst, das ist nichts im Vergleich zu dem Klosterhotel, in dem ich heute Nacht schlafe. Weil das Hotel nicht nur einmal ein Kloster war, sondern heute wieder ein praktizierendes Carmeliterkloster ist. Der Kirche reumütig zurückgegeben, als der kommunistische Albtraum vorbei war. Natürlich konnten die wenigen nach Györ zurückgekehrten Mönche soviel Kloster nicht brauchen. So haben sie sich im hinteren Drittel eingenistet, um ein eigenes kleines Höfchen herum. Haben sich von den langen Fluren des größeren Teils mittels fest verriegelter Türen und dichter Vorhänge abgenabelt. Jeder von ihnen jetzt wie ich in solch einem circa drei mal dreieinhalb Meter großen Raum mit hohem Kreuzgewölbe, fast meterdicken Mauern, einer doppelten Tür zum Flur hin und einem Kastenfenster über der holzverkleideten Heizung. Ob sie da, wo bei mir der Fernseher auf einem Tischchen steht, eine Betbank stehen haben? Mein Fenster, das sich zu dem großen Innenhof hin öffnet, lockt immer mal wieder eine Taube an, die sich auf der breiten Fensterbank niederlässt und mich groß anschaut. Ich will nicht daran denken, dass sie der Heilige Geist sein könnte, und jage sie weg. Ich lasse meine Augen lieber in dem Hof Inventur machen, in dem früher die Mönche betend oder meditierend oder dösend einherschritten, die Hände in die weiten Kuttenärmel gesteckt, wo sie nichts anstellen konnten. Außer der alles beherrschenden mächtig ausgreifenden Kastanie sehe ich einen Ahorn und einen Judasbaum. Unter ihren Blätterschirmen von Ligusterhecken gesäumte Wege und ein Brunnen, der gefährlich tief schauen lässt, wie ich schon bei meiner Ankunft gesehen habe.

Immer mal wieder ein reglos neben der Autobahn stehender Baum. Warum nur werden mir diese Einzelgänger, richtiger Einzelsteher immer vertrauter? Vielleicht weil sie mit ihrem Alleinsein andeuten, dass sie eigentlich zu einer Reihe gehören. Wenn nicht sogar zu einem Wäldchen. Jetzt sind sie nur noch Erinnerungen an ein kuscheliges Sozialleben, aus dem sie übrig geblieben sind. Weil die anderen irgendwann und irgendwie verschwanden. So wie sie selbst auch eines Tages verschwinden werden. Und wie ich. Aber jetzt, mein lieber Baum, bin ich der Schnellere – schon weg und vorbei.

Auf der Fahrt in die Puszta denke ich oft an Piroschka. Man fährt ja nicht ganz unvorbereitet los. Doch kommt mir dann auch die Lüneburger Heide in den Sinn, die Schwester der Puszta, ebenso berühmt und genau wie die Puszta eigentlich bloß das Ergebnis einer Umweltkatastrophe. Alles abgeholzt und dann links liegen gelassen. Nur dass die Puszta weitgehend schon wieder verschwunden ist, weil die Ungarn die trockene Ödnis zu neuem Ackerland kultiviert haben. Bis auf ein paar leere Flecken, die dem Tourismus erhalten bleiben sollen. Offenbar haben die Magyaren von der geschickten Vermarktung der Lüneburger Heide gelernt.

Puszta, das ist die endlos weite Leere, die sich in der Nacht mit letztem fernen Schimmern und dem flimmernden Abendstern schmückt. Doch dann ein Wetterleuchten, das urplötzlich sich selbst nicht mehr genug ist. Der Himmel füllt sich mit Leuchtrunen, die meine Nacht gleißend hell zerfetzen, und lärmt los, dass ich an tausend Furien glauben muss, die sich zum Tanz getroffen haben, wenn nicht gar zum Kampf jede gegen jede. Da kann ich nur noch meine strikte Neutralität erklären, sie beschwören und verängstigt rausschreien: Frieden! Alles vergebens. Aber zuletzt finde ich mich doch unter den Überlebenden wieder. Wenigstens das.

Wo die Zigeuner noch Zigeuner genannt werden dürfen, weil sie selbst sich so nennen, darf ich mich mit dem Geiger Ernö anfreunden. Von der Zigeunerfidel Ohrwürmer aus Operetten neben Sirtaki und Beatles-Songs. Die CD zu zehn Euro. Meine fahrenden Brüder gehen mit der Zeit.

Über Budapest der König István, bei uns besser bekannt als König Stephan der Heilige, hoch zu Pferde. Er erinnert mich daran, dass auch wir so einen Heiligen haben: Kaiser Karl der Große. Auf der Erde sind sie Lichtgestalten gewesen, doch gegen den hellen Himmel nehmen sie sich unvermeidlich als düstere Machtmenschen aus – nur weil das Blitzlicht nicht funktionierte?

Kaum eine andere Universität in Europa habe so einen weiten Campus wie die Uni von Budapest, lese ich im Reiseführer. Na ja, ganz abgesehen davon, dass die Campus-Universität eine amerikanische Errungenschaft ist, an der Sport eines der wichtigsten Lehrfächer ist, heute ist für eine europäische Universität doch wohl wichtiger, ob sie den größten Parkplatz hat und die kostengünstigsten Studentenheime und den schnellsten Internetzugang.

Budapest brüstet sich damit, weltweit die einzige Landeshauptstadt zu sein, die zugleich ein Heilbad mit Dutzenden von Heilquellen ist. Ob die ungarische Hauptstadt diese erstaunliche Heilkraft wohl irgendwann in der Weltpolitik zur Wirkung bringen wird?

In dem Kleinstädtchen Visegrád das große Staunen gelernt. Hat mich doch in einer Pizzeria die Speisekarte viel zu lange vom Bestellen abgehalten. Weil ich zwischen dem üblichen Angebot entdeckt hatte: Prisoner’s food. Darunter stand: lauwarmes Wasser und trockenes Brot. Null Forint. Nichts für mich. Aber aufmerksam geworden inspizierte ich die Karte wie ein Sherlock Holmes und fand prompt: Stallion in bed, in Blätter eingewickelter Pferdekopf, englischer Stil, 600 000 Dollar. Auch nichts für mich, genau wie das Angebot namens Omerta, unter dem es hieß: Mit Rücksicht auf das Gesetz des Schweigens muss der Küchenchef dieses Gericht geheim halten – 1650 Forint. Das hätte ich mir noch leisten können, aber ich blieb vorsichtig. Keinen Appetit auf Alibi-Salat oder auf Huhn Sing-Sing oder auf Fisch Vendetta, auch nicht auf eine Pizza Alcatraz oder Cosa Nostra oder Corpus Delicti. Habe es mit einer schlichten Funghi-Pizza gut sein lassen – und hatte Glück: Die Pilze waren nicht giftig.

Der Gast auf dem renommierten Lippizaner-Gestüt sieht sich in seinem kleinen ebenerdigen  Hotelzimmerchen um und staunt, weil er nicht einmal den reduzierten Komfort eines Motelzimmers entdeckt. Kein Telefon und kein Nachttischlämpchen, kein Internetanschluss und kein Schuhanzieher und nichts in der Minibar. Er muss sich einfach damit abfinden, dass er im Vergleich mit einem Lippizanerhengst ein Nichts ist. So nimmt er brav Pferdehaltung an, steht da, steht einfach so herum, bewegt sich kaum, döst vor sich hin und wartet nur auf die nächste Fütterung.

Was die Ungarn Landstraßen nennen, das sind eher Leidenswege. Voller Schlaglöcher, um die herum zu mäandrieren viel Aufmerksamkeit verlangt und viel Muskelkraft in den Armen. Davon bekommt der Autofahrer einen stechenden Blick, den man hierzulande gern als Temperamentszeichen deutet, dazu diese Catcher-Gangart mit den scheinbar so bedrohlich herabhängenden Armen. Was aber immer noch besser ist als ein geplatzter Reifen oder ein Achsbruch. Sind die Löcher im Uralt-Asphalt doch oft so breit und tief, dass ein Viertel des Rades darin versinkt. Kein Wunder, dass in jedem noch so kleinen Ort ein Unternehmen seine fachkundigen Dienste in Sachen Autoreifen anbietet.

Das Grandhotel Anna in Balatonfüred schwört auf Buffets. Morgens, mittags und abends immer nur Selbstbedienung, dabei herrscht in Ungarn hohe Arbeitslosigkeit. Hier wird sie ignoriert und dadurch erst recht unübersehbar, nämlich an den sieben schwarz gekleideten Kellnern und Kellnerinnen, die wie in einem Weihespiel gravitätisch herumstehen und sich nur zeremoniell langsam bewegen, obwohl sie doch in heftiger Konkurrenz zueinander stehen: Wer bekommt die Chance, einmal einen leergegessenen Teller abräumen zu können.

Eine automordende Holperfahrt durch die unübertroffen tiefsten Schlaglöcher des Landes führt nahe Fortörakos zehn Kilometer nordöstlich von Sopron zu dem Schicksalspunkt zwischen Ungarn und Österreich, an dem ein mindestens so bedeutendes Ereignis stattgefunden hat, wie die große Schlacht gegen die Türken bei Mohács. Von hier aus konnten damals, im Jahre 1989, die Urlauber, meist junge Leute, die hier auf freiem Feld ein Paneuropäisches Picknick veranstalteten, den Neusiedler See jenseits der Grenze liegen sehen. Die Außenminister Ungarns, Gyula Horn, und Österreichs, Alois Mock, machten ihnen vor, wie die Teilung Europas überwunden werden kann. Sie schnitten am 27. Juni für wenige Stunden den Eisernen Vorhang auf, was einige hundert DDR-Urlauber Hals über Kopf zur Flucht in den Westen nutzten. Dann, am 19. August rissen rund zehntausend Menschen, die sich zu dem Paneuropäischen Picknick eingefunden hatten, hier die gesamten Grenzanlagen mit Gewalt nieder. Das war das Ende des Eisernen Vorhangs, das Ende auch des Ostblocks. Daran erinnern jetzt zwei Denkmäler.

Das eine groß und blendend weiß, noch im typisch sozialistischen Stil, verherrlicht den Umbruch, was wohl mehr innenpolitisch als weltpolitisch gemeint ist, das andere ist eine offen stehende Tür aus zwei großen Steinplatten. Nicht weit genug geöffnet, dass ich mich hindurchquetschen könnte. Aber drumherum im Wiesengelände ist Platz genug, die Tür zu umgehen. Die ja keine Tür mehr ist, denn was ist eine Öffnung, wo es nichts Geschlossenes gibt.

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