Trotz allem auf nach Israel! (2017)

 

Schon im Frankfurter Flughafen wird eindrucksvoll unterstrichen, dass es ins Heilige Land geht: Polizisten mit Maschinenpistolen am Check-In von El Al, dann auch noch in dem völlig abgelegenen Warteraum. Und neben dem Flieger ein gepanzertes Polizeifahrzeug. Dafür muss man Verständnis aufbringen. Ist doch alles, was als heilig gilt, selbstverständlich Streitobjekt, weil das Heilige, egal um welches es gerade geht, keine Konkurrenz durch Andersheiliges dulden kann. Ist es doch stets allein selig machend. Das macht weltweit die Friedhöfe groß, wenn auch die Erde nicht friedlich.

In Tel Aviv am Abend gelandet und bei der Fahrt in die Stadt festgestellt: Hier macht jeder, was er will und kann. Man rollt dem anderen in den Weg und hofft, dass der nicht die Nerven hat, sich einfach durchzusetzen. Ein rigoroser Draufhalteverkehr, wie bisher nur in Kairo und Moskau erlebt. Dabei fehlt bloß noch das Denkmal für den gefallenen Unbekannten Radfahrer. Wie und wo diese Hin-Und-Weg-Artisten fahren, in Lebenslinien und Todeskurven, auf großen und kleinsten Fahrrädern und Rollern, meist mit Elektromotor, sehr schnell und ohne Licht, das ist erregender als jeder Fernsehkrimi. So mein erster Eindruck bei diesem dritten Besuch Israels. Es gibt also Neues, wenn man das Land nur alle 25 Jahre inspiziert.

Die einheimische Touristenführerin stellt sich vor. In ersten Kurzinformationen auch ihr Land. Israel habe inzwischen schon mehr Verkehrstote zu beklagen als Tote aus den mehreren Kriegen, die es hinter sich gebracht hat, erklärt sie. Das Gefährlichste an Israel sei deshalb nicht der gelegentlichen Raketenbeschuss aus dem Libanon, dem Gazastreifen oder anderen Grenzbereichen, sondern der Straßenverkehr. Im Übrigen erfahren die Ankömmlinge, die Häuser seien in Jerusalem alle mit Muschelkalkplatten verkleidet. Ein Gebot der britischen Mandatsherren, das jetzt freiwillig weitergeführt werde. In Tel Aviv dagegen seien die Hauswände meist recht schäbig, es sei denn, sie sind im Bauhausstil und gut im Anstrich. Tel Aviv habe noch etwa viertausend Häuser in Anlehnung an den Bauhausstil, was damit zu tun habe, dass unter den vor den Nazis nach Palästina geflohenen Deutschen auch deutsche Architekten waren, die von diesem Stil geprägt waren.

Moderne Reisebusse könnten das Rundfahrtprogramm zu den wichtigsten Stätten des Heiligen Landes beinahe an einem Tag erledigen. Die Touristen wären danach entsprechend erledigt. Wir gönnen uns für den Rösselsprung durch die Jahrhunderte eine ganze Woche und wissen dann: Jaffa, heute bloß noch ein Stadtteil von Tel Aviv,  hat noch schummrig-enge Gassen, die wie von der Insel Rhodos importiert wirken. Kein Wunder, saßen die Osmanen doch auch hier in Palästina ihre vierhundert Jahre ab. Saßen da und saßen hier, vor allem saßen sie und genossen die Ruhe und ihre Nargileh. Der Hafen von Jaffa war viele hundert Jahre lang das Haupteinfallstor Palästinas, in dem man aufatmete. Man hatte die Halsabschneider von Schiffern und die wilde See überlebt, an Land konnte es kaum noch schlimmer sein, höchstens tödlich. Und vor allem in Jaffa begann auch die Besiedlung Palästinas durch Juden aus vielen europäischen Ländern.

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Der erste Eindruck des ehemaligen römischen Verwaltungszentrums Caesarea an der Mittelmeerküste, nördlich von Tel Aviv, ist irritierend: Ein riesiges Kraftwerk mit vier hohen Kaminen, dann ein Golfplatz. Doch danach das antike Amphitheater, daneben ein Stück des ehemaligen Hippodroms und gleich am Meer die Reste des Palastes von Herodes dem Großen. Ein Amtssitz mit den unverzichtbaren Unterhaltungsangeboten und mit idealer Rückzugsmöglichkeit per Schiff. Für den Herrscher über die Hebräer, der selbst nur halbwegs ein Hebräer war und nicht nur deshalb viele Gegner hatte, ein wichtiger Gesichtspunkt. Vor allem seine vielen selbstherrlichen Entscheidungen auf Kosten der kleinen Leute machten ihn zu einem Hassobjekt. Doch die Paläste, die er sich gebaut hatte, sorgten dafür, dass die Nachwelt ihm den Titel der Große gab. Dass sie ihm auch den Kindermord von Bethlehem angehängt hat, den es vermutlich niemals gab, konnte dieses positive Bild kaum vermasseln.

P1020314Die Autobahn nach Haifa weiter im Norden, schon recht nah an der Grenze zum Libanon, ist so was von perfekt. Ein schnurgerader Strich durch die vorbeifliegende Landschaft. Da werden einem die auf der rechten Seite breit hingelagerten Gewächshäuser mit der spinnwebenfeinen Bespannung zu grauen Dämmen, endlos. Weil man das Obst und Gemüse nicht sieht, das dort produziert wird, auch nicht die sich hinduckenden Bananenbäume rascheln hört. Links von uns genauso unwirklich die Kräne, die da und dort in Rudeln auftreten. Israel überzeugt nicht nur in seinen Städten mit einem Überangebot an Baustellen. Links von uns auch die uns begleitende moderne Schnellbahnlinie nach Haifa. Diese Stadt wird schnell abgetan. Als ob sie nur aus den hängenden Gärten der Bahai, einer Nachfolgeorganisation des schiitischen Islam, und ihrem prächtigen Dom bestünde. Leider keine Zeit für die noch erhaltenen typisch deutschen Häuser und den Friedhof mit deutsch beschrifteten Gräbern der schwäbischen Sektierer, die sich hier im 19. Jahrhundert niedergelassen hatten und sich Templer nannten. Akko und das Abendessen im Gästehaus des Kibbuz Kfar Giladi warten auf uns.

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Akko war die letzte Bastion der Kreuzritter auf palästinensischem Boden. Die Ritter aus vielen europäischen Ländern, die Palästina erobert hatten, angeblich um die Heiligen Stätten für die Pilger zu sichern, wurden nach rund zweihundert Jahren, weil P1020323untereinander heillos zerstritten, in der Schlacht um Akko besiegt und aus dem Land getrieben. Das war im Jahre 1291. Erst vor wenigen Jahren wurden die riesigen Räume ihrer unterirdischen Wohn- und Festungsanlage entdeckt und freigelegt. Überraschend: Der Innenhof des Palastes gleicht mit der hohen, breiten Treppe ins Obergeschoss hinauf dem Innenhof des Krankenhauses, das die Kreuzritter dann auf ihrer Rückzugsstation Rhodos gebaut haben. Als könnte man Verlorenes wiederbeleben.

Heute in einem Kibbuz, diesen ehemals fast sozialistischen Kommunen von Idealisten, zu übernachten heißt: In einer Art Hotel schlafen, in dem das Personal mehr Engagement als Fachkenntnisse zeigt. In einem Kibbuzhotel ist deshalb alles beinahe wie in einem richtigen Hotel.

Am nächsten Morgen auf dem Berg der Seligpreisungen der Bibel angekommen. Die typischen Pilgerstätten abzuhaken, lässt sich in Israel nicht vermeiden. Dabei kann man hier kaum noch den Berg erkennen, so vollgestellt mit bunten Reisebussen ist alles. Die unvermeidlichen Gebäude mit Kirche, Restaurant, Kiosk, Toilette verschwinden unter imponierend hohen alten Bäumen. Der ideale Park. Bei der Weiterfahrt dann die Bananenplantagen unter Folien, daneben genauso behütet Mango, Avocado und Oliven. Bewundernswert in einer Landschaft, die nur aus über die Hügel hingesträuselten schweren Felssteinen besteht. Wo man steinlose Felder geschaffen hat, glaubt man noch das Stöhnen hören zu können, das dort Generationen von Bauern beim Abräumen der Steine von sich gegeben haben. Ich sehe und bestaune auch immer wieder kleine Wälder von ordentlich angetretenen Dattelpalmen. Ein beliebtes Exportprodukt.

P1020329In Kapernaum, wo  Jesus vor rund zweitausend Jahren zeitweilig gelebt haben soll, erlauben uns die Fundamente und Mauerreste der Synagoge, in der er angeblich aus der Thora vorgelesen und sie erläutert hat, einen Blick in die Vergangenheit. Da ist die Phantasie des Kulturreisenden gefordert, die den Innenraum der Synagoge vor ihm aufbaut und mit Männern im Sabbatdress mit Gebetsschal füllt.

Fahrt durch das Land Galiläa zu dem aus der Bibel bekannten See Genezareth, der hier Galiläischer See genannt wird. Ein Boot aus der Zeit Jesu hat man ausgegraben. Die konservierten Reste im Museum gelten als die Attraktion der Gegend. Das Touristenboot, P1020334mit dem wir jetzt auf dem See fahren, ist viel größer und bietet keinen Sturm und keinen ihn besänftigenden Jesus, überhaupt keine Wunder, statt dessen Musik und ein wenig Volkstanz sowie T-Shirts, die bestätigen, dass man auf dem Galiläischen See war. Zudem wird für die Touristen das Wasser des Sees in kleinen Fläschchen zum Verkauf angeboten, als heiliges Wasser.

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Tabgha heißt er heute, der Ort der wundersamen Brotvermehrung Jesu. Und Verwunderung löst er auch heute noch aus, nämlich mit den Mosaiken aus dem 5. Jahrhundert, die auf dem Boden der Kirche zu sehen sind, die über diesem für Gläubige wichtigen Platz errichtet wurde. Tiere und Pflanzen aus dem Nildelta und sogar ein Nilometer, mit dem der Wasserstand des Nils kontrolliert wurde, zeigen uns, dass man schon damals ausländische Künstler den einheimischen vorzog.

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Von halber Höhe der mehrfach heiß umkämpften Golanhöhe gibt es den Blick hinab auf die Grenze zu Syrien und auf das UN-Quartier. Im Übrigen nur Felder und Obstplantagen. Was da gleich unterhalb unserer Aussichtsplattform an kleinen runden Hügeln auf ein P1020345Plateau gesetzt wurde, sieht nach Raketennestern aus, soll jedoch eine Anlage sein, die dem Studium des Vulkanismus dient. Wer’s denn glaubt. Jedenfalls können wir beim Blick nach oben erkennen, dass die Bergspitze mit Antennen und anderen technischen Geräten wehrhaft bepflanzt ist. Für uns Touristen natürlich nicht zugänglich.

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Majestätisch wirkende alte Eukalyptusbäume, wie in Australien, säumen die Straße. Eine Baumart, die ich im knochentrockenen Palästina nicht erwartet habe. Auch nur aus Versehen hier eingebürgert, erfahre ich. Weil die frühen Kolonisten wussten, dass die Eukalypten viel Wasser brauchen, pflanzten sie den Baum gern da an, wo Moore und Sumpfgelände trockengelegt werden sollten. Erst verspätet erkannten sie, dass diese Bäume Feinschmecker sind, die kein Moorwasser trinken. Da musste man sich darein schicken, dass man nicht nur sich selbst, sondern auch noch seine Bäume regelmäßig mit Frischwasser versorgen muss.

Die einheimische Reiseleiterin erklärt die Lebensverhältnisse in Israel als besonders schwierig. Alle jungen Frauen sind wie die jungen Männer wehrpflichtig. Alle Frauen gehen zur Arbeit, auch neben der Tätigkeit für die Familie, in der sogar die Omas und Opas fehlen, weil die meist noch im Rentenalter arbeiten gehen. Die jungen Leute haben oft mehr als eine 52-Stunden-Woche, der Jahresurlaub beträgt 12 Tage, die Steuern sind hoch, Arbeitslose bekommen nur ein halbes Jahr lang Geld, und es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Israel kennt fast nur Wohnungseigentum, keine Mietshäuser. Dabei gibt es anders als bei uns für die Mieter von Häusern oder Eigentumswohnungen keinen gesetzlichen Mieterschutz. Ich verstehe: Alles in allem beinahe sozialistische Verhältnisse. Fast könnte man sagen: Die Verbindung von Kapitalismus mit sozialistischen Zumutungen, wie im modernen China, wo das offensichtlich ein Erfolgsrezept ist.

Verkündigungskirche Nazareth

In Nazareth die Verkündigungskirche mit der besonderen Attraktion einer langen Galerie von Marienbildern aus aller Welt. Im Souterrain der modernen Kirche aus den 60er Jahren die Stelle, an der Maria verheißen worden sein soll, sie werde einen Sohn gebären.

Dann Kontrollen am Checkpoint zum Westjordanland, das von Israel besetzt ist. Und plötzlich ein anderes Bild: Die Gewächshäuser sind älter, teilweise zerfetzt und fast alle leer. Das unbebaute nackte Hügelgelände der Judäischen Wüste, durch das die Straße führt, wäre ideal für ein Moto-Cross-Rennen, bei dem der Sand nur so hochspritzt.

Fahrt durchs Jordantal nach Süden. Nächste Attraktion für die Gläubigen unter uns: Die Stelle am Jordan, an der Jesus auf Johannes den Täufer gestoßen sein soll, der ihn getauft und als den lang erwarteten Messias bezeichnet habe. Heute ist das ein Grenzposten zu Jordanien.

Taufe im Jordan

Auf der endlos scheinenden Straße durch das Westjordanland begleitet uns auf einmal zur Linken das Tote Meer. Mitten hindurch verläuft die Grenze zum Nachbarland Jordanien. Muss man sich zumindest so vorstellen, denn zu sehen ist die Grenze nicht. Es ist überhaupt nichts zu sehen auf dem Wasser. Dabei sieht das Tote Meer aus wie jedes andere Meer und bietet unendlich viele ideale Sandstrände, menschenleere. Und diese schönen Strände werden immer breiter, weil der Wasserspiegel des Toten Meeres rapide sinkt. Was weniger schön ist. So sehen wir doch etwas, nämlich das Urproblem Palästinas: Es gibt zu wenig Wasser und zu viele, die dem Jordan das Wasser abzapfen.

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Am Tagesziel angekommen. Schnell zur Erholung ein kurzes Bad im Toten Meer. Da stehen riesige Badehotels am Strand, die so tun, als handle es sich um einen Badestrand wie anderswo. Dabei ist nur dieses behutsame Hineinwatscheln und fast bewegungslose Liegen auf dem Wasser möglich. Und das bisschen Genuss, dass das Wasser wegen des hohen Salzgehalts einen trägt. Aber nur keine zu heftigen Bewegungen mit den Armen oder Beinen, damit kein Wasser aufspritzt und einem in die Augen kommt. Die Schmerzen sollte man sich sparen. Der Salzgehalt von über 30 % lässt einem bloß ein Vergnügen wie auf dem Nagelbrett eines Fakirs. Besonders schwierig ist das Rauskommen aus dem Wasser, weil man die Beine nicht nach unten kriegt, also vorsichtig mit den paddelnden Händen so weit Richtung Strand zurück schwimmt, bis man auf dem Sand aufsitzt. Oder man hat es schon geschafft, sich auf den Bauch zu drehen und kann nun, auf dem Sand kniend, aufstehen.

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Dann endlich Massada. Der Bergklotz oberhalb des Toten Meeres ist der Inbegriff des Durchhaltewillens und der konsequenten Ablehnung von Fremdherrschaft. Hier haben die letzten Hebräer den römischen Eroberern des Heiligen Landes Widerstand geboten. Und P1020353als die römischen Soldaten sich eine Rampe hinauf auf den Berg geschaffen hatten, haben die Verteidiger des Berges den gemeinsamen Freitod der Versklavung vorgezogen. 960 Männer, Frauen und Kinder sollen so ihr Leben verloren haben. Nur zwei Frauen und fünf Kinder, die sich in einer Wasserleitung versteckt hatten, überlebten das Massaker, wenn man dem jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus (um 37 – nach 100 u. Z.) glauben soll, der in Rom in recht guten Verhältnissen lebend diese Tragödie in seinem Buch „Geschichte des judäischen Krieges“ ausführlich beschrieben hat. Flavius Josephus war, wie man inzwischen weiß, mehr ein Geschichten-Erzähler als ein Geschichts-Schreiber. Doch müssen Zweifel an seiner Darstellung unausgesprochen bleiben. Jetzt spazieren Tag für Tag Massen von Touristen aus aller Welt auf den holprigen Wegen zwischen den P1020352Resten der Bergfestung und der Drei-Zimmer-Wohnung Herodes des Großen umher und stolpern über Steine, zwischen denen das Blut von fast tausend Menschen versickert ist. Für was sind diese Menschen gestorben? Ganz sicher nicht, um den Israelis eine Art Nationalheiligtum zu bieten, eigentlich auch nicht zur Förderung der Tourismusindustrie.

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Auf nach Jerusalem. Und dort zunächst auf den Ölberg, von dem aus jeder Tourist, mir scheint das fast das elfte mosaische Gebot zu sein, über Unmengen von Gräbern hinweg auf den gegenüber liegenden Tempelberg zu schauen hat. Wo er aber unvermeidlich als erstes das Highlight Jerusalems, die goldene Kuppel des muslimischen Felsendoms sieht. Unter der Kuppel ist die Felsplatte, auf der nach jüdischem Glauben Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte und von der aus nach Meinung der Moslems Mohammed auf seiner Lieblingsstute Al-Burak gen Himmel geritten ist. Unweit daneben auch noch die El-Aqsa-Moschee, die größte Moschee der Stadt. Zu Füßen dieser Gebäude steht die Klagemauer, der Rest des zweiten Tempels, der im Jahre 70 unserer Zeitrechnung von den Römern zerstört wurde.

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Die Ultra-Orthodoxen im Stadtviertel Mea Shearim haben oft – noch oder schon – den weißen Gebetsschal umgehängt, wenn sie mit schwarzem Hut und schwarzem Gehrock schnellen Schrittes durch die Straßen huschen. Manche sogar mit dem Schtreimel auf dem P1020387Kopf, der hohen, kreisrunden Pelzkappe. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man annehmen, das sind Schauspieler aus einem Filmstudio, die sich in einer Aufnahmepause irgendwo schnell eine koschere Currywurst holen. Die Erzkonservativen, diese Ultras, sie beleben das Straßenbild in Jerusalem auch außerhalb ihres Viertels. Ihre Tracht ist nicht ganz einheitlich, vor allem an den Kopfbedeckungen, den Socken sowie den Schläfenlocken kann man sie unterscheiden. Nach den Ländern, aus denen sie oder ihre Vorfahren eingewandert sind, und nach der Radikalität ihres Glaubens. Fast möchte man P1020420sie bewundern, wenn man erfährt, dass sie kein Radio und kein Fernsehen haben, sich auch keine Zeitung halten, lediglich die Wandzeitungen lesen, die hier und da in ihrem Viertel öffentlich angeklebt sind. Damit gehorchen sie der kategorischen Forderung: Du sollst deine kurze Lebenszeit nicht mit Ablenkungen vertun, sondern dich ein Leben lang nur mit der Bibelkunde beschäftigen. Wenn man dann aber hört, dass sie fast alle ihr Mobilphone haben, also auch Internetzugang mit allem, was das bedeutet, von Google bis Porno, sieht man die Männer, die sich so interessant kostümiert darstellen, und ihre Frauen in den langen Röcken mit anderen Augen an. Doch sind diese Männer ideale Familienväter, die viele P1020383Kinder zeugen, meist mindestens ein Dutzend, und sich auch nicht scheuen, die Kleinen im Kinderwagen durch die Straßen zu schieben. Damit folgen sie der biblischen Forderung: Seid fruchtbar und mehret euch! Was ja letztlich nur dem Naturgesetz der Selbsterhaltung und Arterhaltung entspricht.

 

P1020385An der Klagemauer von Jerusalem unterhalb des Felsendoms vermischen sich die professionellen Beter mit den Gelegenheitsbetern und den Zuschauern und Knipsern, aber streng getrennt nach Männlein und Weiblein. Hier gibt es wie vor fünftausend Jahren immer noch nur zwei Geschlechter, das eine ist gut, das andere unvermeidlich. Die Profis mit ihrem Vorbeugen und Aufrichten, Vorbeugen und Aufrichten, nein, sie halten hier nicht ihr Nickerchen, sie unterstreichen nur mit Körpersprache ihre Gebete. Die Gläubigen, die ihr Anliegen auf ein Zettelchen geschrieben haben, klemmen es zusammengefaltet in eine der Ritzen zwischen den Steinen, unerschütterlich sicher, dass es bei dem Gott ankommt, den sie verehren. Im Baedeker steht allerdings, dass die Zettelchen in regelmäßigen Abständen aus der Mauer gepflückt und verbrannt werden.

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Das zeltartig gebaute Museum der Qumran-Texte beherbergt die Schriftrollen, die im Jahre 1947 zufällig in einer Höhle südlich von Jericho gefunden wurden. Eine Sensation, die sich als das Überbleibsel einer jüdischen Sekte entpuppte. Es waren die Essener, die vor der Zeit Jesu ihren Glauben in Hebräisch, teilweise auch in Aramäisch auf Schriftrollen festgehalten und in  Tonkrügen sicher verwahrt in mehreren Höhlen deponiert hatten, um ihn für die Ewigkeit zu sichern. In Jahrzehnten mühsamer Entzifferarbeit kam heraus, dass es sich um Geschichten des Alten Testaments, also des jüdischen Tanach handelt.

In Yad Vashem ist alles zusammengetragen worden, was mit dem Holocaust zu tun hat. Damit ist es ein einmaliges Informationszentrum, aber auch das Kainszeichen auf der Stirn des Menschengeschlechts. Schon die Zahlen sind erschreckend: 6 Millionen Juden sollen von den Nazis getötet worden sein, von einem Drittel der Toten weiß man bis heute noch nicht die Namen. Da lese ich, dass im Jahre 1933, also bei der Machtergreifung der Nazis, in Deutschland 525.000 Juden lebten, in Polen 3.325.000, in der Sowjetunion ebenfalls über drei Millionen und in Rumänien 757.000. In allen anderen Ländern lebten wesentlich weniger Juden. In Spanien, Frankreich und England gab es nicht mehr viele Juden, weil sie aus diesen Staaten schon in der frühen Neuzeit per Gesetz vertrieben worden waren.

In der über viele Räume verteilten Ausstellung sehe ich hingestreute Bücher, unter anderem von C.F. Meyer, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud und Walter Benjamin. Dieses Sammelsurium der Anklage hat im Nebeneffekt sogar etwas Tröstliches an sich: Weil die Bücher trotz vieler Bücherverbrennungen da sind, zeigt es, dass der Geist unzerstörbar ist.

Wenn ich rundum auf alten Fotos sehe, wie rabiat mit wehrlosen, braven Bürgern umgegangen wurde, kommen mir die Soldaten und Soldatinnen, die mir in Jerusalem auf Schritt und Tritt begegnen, das Gewehr über die Schulter gehängt oder die Maschinenpistole im Anschlag, schon als eine Wohltat vor.

Ich lese, dass der ehemalige Viehtransporter „Struma“ im Dezember 1941 den Schwarzmeerhafen von Constanza mit 769 jüdischen Flüchtlingen verlassen hat. Doch die Türkei ließ das Schiff in keinen Hafen einlaufen, und die Britische Mandatsmacht lehnte es ab, Sondererlaubnisse zum Landen in Palästina auszustellen. So lag das Schiff vor einem türkischen Hafen, bis die Türken es am 23. Februar 1942 aufs offene Meer hinausschleppten und es sich dort sich selbst überließen, ohne Wasser und Nahrungsmittel und ohne Öl für die Maschinen, also in absolut hoffnungsloser Lage. Doch wurde die Not schon wenige Stunden später durch ein sowjetisches Schiff beendet, das die „Struma“ mit einem Torpedo auf den Meeresgrund schickte. Nur ein einziger von den 769 Flüchtlingen überlebte diesen Massenmord.

Yad Vashem ist also nicht eine bloß gegen Deutschland gerichtete Anklage. Ich lese an der Wand die Frage: „Warum haben die Alliierten die Zugangswege zu den Vernichtungslagern nicht zerbombt?“ Sehr mutig. Doch als Antwort finde ich nur einen Hinweis auf den damaligen Papst, der sich nicht um die Judenvernichtung gekümmert habe. Yad Vashem bemüht sich also, das Problem der Judenverfolgung aus vielen Blickwinkeln zu erklären. Dazu bringt diese Anlage immer neue Aspekte von Staatsgewalt und menschlichem Leiden. Kaum auszuhalten. Die Gedenkstätte soll von Deutschland mitfinanziert sein, höre ich. Dass die vielen Deutschen, die nun tagtäglich durch die Ausstellungsräume pilgern, alles nur in Hebräisch und Englisch erklärt bekommen, aber keine Beschriftungen in deutscher Sprache finden, muss ich wohl als eine besonders schonende Behandlung empfinden.

Immer wieder Einzelschicksale, kaum zu ertragen. Ich kann nicht mehr weiter notieren, weil die Augen überschwemmt sind. Als ob das Wasser in den Augen, das dazu da ist, allen Schmutz schnell wegzuwischen, mich hier davor bewahren wollte, noch mehr von all diesen schrecklichen Bildern und Geschehnissen und Dokumenten und armseligen Hinterlassenschaften der gequälten Menschen zu sehen. Muss ich mir das alles zumuten? Bin ich nicht längst über die Schrecken der brutalen Einzelaktionen hinaus, wenn ich mich mit der Frage aller Fragen beschäftige: Warum tun die Menschen, was sie tun? Die Frage, die mich seit mehr als sechzig Jahren umtreibt.

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Die Geburtskirche in der Altstadt von Bethlehem, südlich von Jerusalem, soll exakt an der Stelle errichtet worden sein, an der der Stall von Bethlehem gestanden hat, in dem Jesus geboren wurde. Diese gynäkologische Abteilung des Glaubens teilen sich gleich mehrere christliche Kirchen, und das nach festen Uhrzeiten. Ein christlicher Palästinenser, der dort wohnt, ist in Bethlehem unser Führer. Mit ihm geht es in die Geburtskirche, in der sich Massen von Gläubigen verschiedenster Christlichkeit mit unglaublicher Geduld bemühen, in die Geburtsgrotte zu gelangen, um dort auf dem Boden den Stern von Bethlehem zu sehen und vielleicht sogar mit der Stirn berühren zu können, die Stelle, an der Jesus geboren worden sein soll. Dass die Stadt heute 30.000 Einwohner hat, erklärt unser Führer hinterher, wovon ein Drittel jüdisch ist, zwei Drittel aber Araber sind. Er klagt P1020403darüber, dass die hohe Mauer, die die Israelis in den letzten Jahren um die Stadt gebaut haben, weite Teile der Stadt und ihrer Felder abschneidet, wo jetzt Siedlungen für die Israelis entstehen. Gebaut mit Hilfe von billigen palästinensischen Handwerkern. Und er beklagt sich, weil er zwar nach Israel hinein darf, aber nicht nach Jerusalem. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaft absolviert, aber keinen entsprechenden Arbeitsplatz finden können. Im Moment hat er den Job als Fremdenführer in seiner Stadt und ist an einem kleinen Forschungsprojekt beteiligt. „Bethlehem ist offiziell palästinensisches Autonomiegebiet, gehört deshalb zu keinem Staat.“ Er ist also ein Staatenloser, weil der P1020402Palästinenserstaat immer noch fehlt. Wenn es auch neue Hoffnung gibt, weil die beiden Palästinenser-Organisationen Fatah und Hamas, die sich immer bis aufs Blut bekämpften, sich gerade auf ein gemeinsames Agieren geeinigt haben. Aber die Regierung Israels will keinen Palästinenserstaat neben sich haben. Und die Nachbarn Iran, Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten verfolgen in Nahost konsequent ihre eigenen Interessen, genau wie die Großmächte USA und Russland.

Yad Vashem und Bethlehem am selben Tag zu besuchen, das heißt: Das doppelte Unrecht dieses Landes zu sehen, nämlich das an dem jüdischen Volk begangene und das an dem palästinensischen Volk begangene. Den einen wurde das Leben geraubt, den anderen die Heimat. Das eine war der Versuch der Ausrottung eines Volkes, das andere ist die Landnahme ohne Rücksicht darauf, dass man die Palästinenser zu den Indianern, den Aborigines oder Mayas des Vorderen Orients macht.

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Zurück in Jerusalem und die Via Dolorosa hinauf und auch wieder hinunter. Dass Jesus auf diesem steinigen Weg sein Kreuz getragen hat, ist eine Story, die bei Gläubigen für Stimmung sorgen kann, allerdings nur, wenn sie mit geschlossenen Augen dahinwanken. Damit sie rechts und links nicht abgelenkt werden durch die Reihen von Läden mit religiösem Kitsch. Das Ende dieses Leidensweges ist der ehemals unbebaute Hügel und Hinrichtungsplatz außerhalb der Stadt. Eine kleine Kirche in einer großen Kirche steht P1020435jetzt an der Stelle, an der Jesu Grab gewesen sein soll, wiederum von mehreren christlichen Religionsgesellschaften als ihr besonderes Heiligtum beansprucht und betrieben.

 

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Wenn man einmal einen Sabbat in Jerusalem erlebt hat, mit all seinem Stillstand, weiß man, dass der Sabbat der ideale Tag für kleine Feiern mit Freunden wäre. Denn auf einmal sind die Straßen, die sonst voller Staus sind, fast völlig leer. Am Sabbat fahren in unserem riesigen Hotel Crown Plaza zwei von den vier Aufzügen im Sabbat-Modus, lasse ich mir erklären. Das heißt, sie halten automatisch an jedem Stockwerk, weil die Strenggläubigen die Knöpfe nicht drücken dürfen, da am Sabbat jegliche Arbeit verboten ist.

Mir reicht Jerusalem mit seinen tausende Jahre tiefen Fallgruben und Mehrdeutigkeiten. Lieber noch ein paar Tage in der modernen Großstadt Tel Aviv verbringen. Im Tel Aviv Museum of Art habe ich die vier Bilder fotografiert, die mich am stärksten angesprochen haben: Lesser Ury, Holsteinische Schweiz, 1908; Chaim Soutine: Der Boy, 1925; Pierre Auguste Renoir: Die Odaliske, 1898; Francis Picabia: Frau mit Blüten, 1938.

P1020461Ungewöhnlich: Ein Kunstmuseum, das nur aus privaten Sammlungen besteht, die jeweils ihre eigenen Räume haben. Also keine Aufteilung nach Kunstperioden oder Ländern. Die Verehrung der Sammler ist wichtiger als die Orientierung der Besucher. Das Ich ist nach wie vor beherrschend. Der hier gezeigte Namenskult ist genauso landestypisch wie die Auswahl der gezeigten Bilder, die weit überwiegend von jüdischen Malern stammen und vom Impressionismus bis zur Moderne reichen. Das Besondere an diesen Sammlungen ist, dass die Bilder nicht wie üblich in schlichten und einheitlichen Museumsrahmen gezeigt werden, sondern in den Rahmen, in denen die Sammler sie gesehen haben. Durchweg Prachtrahmen, die das P1020465heimische Ambiente der Sammler ahnen lassen. Bei manchem kleineren Bild, beispielsweise der Odaliske, die dadurch noch viel nackter wirkt, sogar ein bisschen zu viel Pracht.

 

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Das Tel Aviver Wohnviertel Neve Tsedek wirkt mit seinen alten und kleinen Häusern, die sich hinter und unter Bäumen und Buschwerk verstecken, so anheimelnd, dass man glatt zu einem der Tel Avivim werden möchte. Hier haben sich die frühen Ankömmlinge angesiedelt, denen es im alten Jaffa zu eng wurde.

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In Alt-Jaffa nahe beim großen Uhrturm ist heutzutage alles ein einziger Flohmarkt mit eingestreuter Minigastronomie. Das Fluidum vierhundertjähriger Osmanenseligkeit schafft es, Einheimische wie Touristen im Gedränge und auf primitiven Sitzgelegenheiten zu vereinen.P1020508

Ob mich das Land Israel und seine Menschen überzeugt hätten, wurde ich von Einheimischen gefragt. Die israelische Küche ganz sicher nicht. Bei aller strikten Trennung in der koscheren Küche zwischen Milch- und Fleischprodukten, diese Art der Trennkost mag zwar gesund sein, doch brauche ich keine Diät. Andererseits muss ich zugeben, dass ich bei allen Bedenken wegen der rücksichtslosen Verdrängung der einheimischen Palästinenser doch die Aufbauleistung der Juden bewundere. Die haben ja nicht nur unfruchtbares Land bewässert und zu Kulturland und funktionierenden Städten gemacht. Es werden nicht nur Orangen und Kräuter exportiert. Israel hat auch eine Spitzenstellung als Entwickler in der IT-Industrie, die es ihm erlaubt, Patente und Lizenzen ins Ausland zu verkaufen.

Wenn ich die jungen Männer am Strand von Tel Aviv sehe, wie sie Turn- und Kraftübungen machen, möchte ich fast applaudieren, mache mir aber schnell klar: Diese durchtrainierten Körper sind Ergebnis von drei Jahren Wehrpflicht mit intensiver P1020494Ausbildung. Im Vergleich dazu die Jungen zu sehen, die in Jerusalem im Viertel der Ultra-Orthodoxen dünn und bleichgesichtig dahergingen, weil es für sie nur das ewige Studium der heiligen Bücher gibt, lässt mich erkennen, dass hier zwei Gesellschaften nebeneinander her leben, die vom Gesichtspunkt der Brauchbarkeit her Welten trennen.

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The war of languages, so nannte man 1913 die heftige Auseinandersetzung unter den Palästinasiedlern um die künftige Staatssprache. Sehr viel sprach damals für Deutsch. Und beinahe wäre das Deutsche tatsächlich die Sprache des neuen jüdischen Staates in Palästina geworden. Doch gleichzeitig wurde der Sprachwissenschaftler Ben Yehuda (1858-1922) immer erfolgreicher mit seiner Entwicklung einer neuen, für den Alltagsverkehr geeigneten hebräischen Sprache. Dass wir ausgerechnet im Hotel Prima City wohnen, also in der Mapu-Straße, gleich um die Ecke der Ben-Yehuda-Straße, das ist eine merkwürdige Fügung des gern Schicksal genannten Zufalls. Denn Abraham Mapu, der von 1808 bis 1867 gelebt hat,  ist der mir bisher nie begegnete, in Israel aber jedem vertraute Name des Schöpfers der ersten belletristischen Literatur in hebräischer Sprache.

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In dem kleinen Mira-Und-Alexander-Indich-Park neben dem Sheraton-Hotel, gleich am Tel Aviver Strand, um halb fünf ein letzter Blick in den Sonnenuntergang, Anfang Dezember. Dabei trete ich auf kleine spitzige Pflanzenbündelchen, die ausgerupft und weggeworfen wurden. Überall liegen sie auf den Steinplatten. Zum Verenden. Wie als Setzlinge gesucht und dann doch nicht mitgenommen. Ich hebe eines auf, es piekt mir in den Finger, und ich verstehe: Das sind die Abkömmlinge der großen Agave, dort auf der Ecke. Das ist ihre Jugend, die hier geopfert wird, damit der kleine Park schön vielfältig bepflanzt und begehbar bleibt. Dabei war die Agave lange vor den Parkstiftern da und auch lange vor dem Hotelhochhaus. Das ist, so scheint mir, der Kommentar des Gärtners zu meiner Israel-Erkundung.

Gewohnt, im Flughafen die Augen gehen zu lassen und alle Beschriftungen zu lesen, fühle ich mich im Ben-Gurion-Airport von Tel Aviv ganz schön zum Narren gehalten. Vieles ist nur in hebräischen Schriftzeichen angeschrieben, da werde ich also kaltlächelnd als Ausländer abgetan. Dabei heißt Hebräer soviel wie Ausländer. Also wieder die Erkenntnis: Im Ausland ist jeder ein Ausländer. Dann aber diese Riesenreklame für Brillen mit einem deutschen Frauennamen als Marke und dem Zusatz Berlin, damit sie sich besser verkaufen, denn Berlin ist bei den jungen Israelis in. Daneben überall der Name der Bank Hapaolim. Brauche ich nicht. Dafür wird die Änderung des Flugsteigs für meinen Abflug nirgendwo angeschrieben. Braucht man nicht. Sollen die Fremden doch sehen, wie sie heimkommen. Wenn Barbara sich nicht durchgefragt und ich daraufhin nicht die am Gate D 4 Wartenden eingesammelt und zum Gate D 9 gebracht hätte, wäre unser Flieger nicht voll besetzt abgeflogen.

Auf der Herrentoilette ist eine junge Frau mit Kopftuch, offensichtlich eine Palästinenserin, bei laufendem Pinkelbetrieb dabei, die einzelnen Kabinen zu säubern. Mit einem nur angedeuteten Wink weist sie mir die gerade fertige Kabine zu, ohne den Blick zu heben. Hinterher drücke ich ihr einen Schekelschein in die plastikbewehrte Arbeitshand, immerhin fünf Euro wert. Das großzügigste Trinkgeld, das ich je gegeben habe. Weil mich der Gedanke in Wut bringt, dass die Frau diesen Job ganz sicher nicht freiwillig macht, sondern nur aus größter Not und Sorge um ihre Familie.

Endlich sitzen wir in der El-Al-Maschine. Jetzt schwinden allmählich unsere heimlichen Ängste wegen möglicher Unruhen und Überfälle sowie der angekündigten neuen Intifada. Wieder Steine werfende Jugendliche, wie ich sie bei meinem letzten Besuch erlebt habe. Als Reaktion auf Präsident Trumps Ankündigung, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen und damit Jerusalem als die Hauptstadt Israels offiziell anzuerkennen. Ich sitze links am Fenster, neben mir Barbara, daneben ein mittelalter schwarzbärtiger Mann mit Kippa. Kurz vor dem Start fragt er uns in freundlichem Ton, ob wir bereit wären, die Plätze zu wechseln, weil er aus religiösen Gründen nicht neben einer fremden Frau sitzen dürfe. In der Überraschung haben wir beide nicht gleich die passende Entgegnung bereit, stattdessen stehen wir auf und lassen den Juden mit seinem Sitzproblem ans Fenster, ich setze mich in die Mitte, und Barbara setzt sich an den Gang. Die beiden rechts und links neben mir haben sich damit verbessert, ich habe die Rolle des Eingezwängten übernommen. Ist ja nur für fünf Stunden. Ich nehme mir vor, den Fremden dafür mit meinen rücksichtslosen Fragen zu bestrafen. Ob er generell was gegen Frauen habe, will ich wissen. Das wird lebhaft zurückgewiesen. Ob er denn auch verheiratet sei. Ja, er habe eine Frau und fünf Kinder. Und er sei auf dem Weg nach Heidenheim, wo er arbeite. Ich will mich nicht auf ein vertrautes Gespräch einlassen und stelle nur trocken fest, ich säße lieber neben Frauen als neben Männern. Er lacht und behauptet, dafür volles Verständnis zu haben. Ich frage geradeheraus: „Sind Sie einer von den Ultra-Orthodoxen?“ Das verneint er. „Aber doch ein Orthodoxer?“ Das sei er mehr oder weniger, gibt er zu. Inzwischen hat Barbara mir mit leisen Zwischenbemerkungen und ihrer eindeutigen Körpersprache deutlich gemacht, wie beleidigt sie sich fühlt. Deshalb breche ich das Gespräch mit dem Kippamann ab. Wir bleiben schweigend nebeneinander sitzen. Barbara und ich vermeiden hinterher auch jedes Sichverabschieden, damit der Mann versteht, wie verletzend seine alberne Sitzvorschrift wirkt. So hat der Besuch im Heiligen Land uns gezeigt, dass es nicht einmal im Märchenland wirklich märchenhaft schön ist. Weil zwischen den diversen Religionen nicht nur Maschinenpistolen und Gewehre für den richtigen Geist des Friedens sorgen, sondern auch Steine werfende Jugendliche und moderne Arbeitssklaven sowie diffamierende religiöse Gebote.

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