Der Turm an der gedeckten Brücke in Luzern, heißt heute schlicht Wasserturm, weil er im Wasser steht, gilt aber als das meist fotografierte Denkmal der Schweiz. Früher war der Turm mal Gefängnis und mal Schatzhaus der Stadt, wie man das schon in so vielen anderen Städten der Welt auf den Plaketten an uraltem Gemäuer gelesen hat. Das Gefängnis als Schatzhaus, leider viel zu oft wahr. Denk mal!
In der Schweiz bieten die Hoteliers einem schon beim Frühstück den besonderen Spaß, dass die Frühstückseier im Körbchen rohe Eier sind. Wer sie routiniert aufschlägt, weil er den nebenan stehenden Eierkocher übersehen hat, muss sich anschließend einen neuen, frisch eingedeckten Tisch suchen, wenn nicht sogar sein Hemd wechseln. Und am Nachmittag kommt im Café die heiße Schokolade nur als heiße Milch, zusammen mit einem Sortiment von Schokoladenpulvern in verschiedenen Gläsern und Schokostangen mit diversen Bezeichnungen zum Auflösen in der heißen Milch. Jeder soll nach seiner Façon selig werden. Richtig verstanden heißt die eine wie die andere Umständlichkeit aber: Die Schweizer kultivieren die demokratischen Rechte des Einzelnen nicht nur bei Volksabstimmungen, sondern auch im täglichen Leben. Gratulation!
Die Zähne zeigen uns die Welt. Ungarns Zahnärzte locken mit großem Reklameaufwand die Deutschen ins Land, die Probleme mit ihren Zähnen haben; deutsche Zahnärzte locken mit vergleichbarem Aufwand die Schweizer ins Land, die einen Zahnarzt brauchen. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Die Schweiz ist eine Klassengesellschaft. Es gibt sogar auf dem kleinsten Ausflugsschiff auf dem Vierwaldstätter See eine Erste Klasse und eine Zweite Klasse. Nur nach der Zwischendeckklasse für Auswanderer sucht man vergebens. Und die Post verschickt deine Karten und Briefe, je nach deiner Finanzkraft, schnell oder langsam, und das sogar bei Inlandspost. Dabei muss der Unterschied in der Beförderung wohl sein: Postbus oder Postradler.
Einen Deutschen getroffen, der schon elf Jahre in der Schweiz lebte und arbeitete, als er im Jahr 1973 einen Einbürgerungsantrag stellte. Weil er sich gesagt hatte: Ordnung muss sein. Er wurde zu einem Gespräch mit den sieben Stadträten einbestellt, das eine halbe Stunde lang zeigte, wie gut er sich in schweizerischer Geschichte und Landeskunde auskannte. Danach ging seine Akte zur Kantonalregierung, die sie positiv fand und deshalb an die Regierung in Bern weitergab. Alles in gewohnter Weise. Doch nach einem halben Jahr bekam der Mann von der obersten Polizeibehörde der Schweiz einen Brief, in dem stand, die Ehe sei eine christliche Institution, die in diesem Land hoch geschätzt werde. Da er aber in einem Konkubinat lebe, was gegen die Wertvorstellungen der Bevölkerung verstoße, könne seinem Einbürgerungsantrag nicht entsprochen werden. Der Mann hat daraufhin die deutsche Frau, mit der er schon Jahrzehnte zusammenlebte, nicht geheiratet, aber sie haben sich gemeinsam den 1978 in die Kinos gekommenen Film „Die Schweizermacher“ angesehen, und das gleich mehrfach und mit viel Vergnügen.
Lugano am Tag vor Muttertag. Zwischen den Prachtläden voller Armbanduhren aller Edelmarken in der Fußgängerzone eine Ausstellung aller europäischen und japanischen Autos. Eins so blitzeblank wie das andere. Nur die vielen Hunde lockern das Bild auf. Alles für die Mütter? Eine Uhr so an die Zeit gebunden wie die andere, kein bisschen schneller oder ertragreicher. Da sind die Autos schon ganz was anderes: Eines noch schneller als das andere – weg. Hoffentlich.
Da und dort an hoher Wand eine Sonnenuhr, und in den engen Gassen immer wieder ein anderer Laden mit großem Angebot an teuren Armbanduhren im kleinen Schaufenster, das war Ascona am Lago Maggiore. Da wurde mir die Zeit so lang, dass ich mich schleunigst davonmachte. Ohnehin war die Ausstellung auf dem Monte Verità mit einer der prominentesten Aussteigerkolonien vom frühen zwanzigsten Jahrhundert wegen Renovierung geschlossen – bis 2013.
Wer in der Schweiz einen Schnäppchenkauf machen will, sollte nach Ascona fahren und sich dort in der Libreria Della Rondine umschauen. Eine atemberaubende Sammlung von deutschprachigen Büchern, von denen viele kaum noch irgendwo zu bekommen sind. Für 28 Fränkli habe ich dort den Roman „Pisana oder Die Bekenntnisse eines Achtzigjährigen“ des Italieners Ippolito Nievo erworben. Das erstaunlich lebenskluge Buch, das ein Siebenundzwanzigjähriger im Jahre 1858 geschrieben hat, ein promovierter Jurist und Kampfgenosse Garibaldis, der schon drei Jahre später bei einem Schiffsuntergang zu Tode kam, sechs Jahre vor der Veröffentlichung seines Buches. Was wieder einmal zeigt, dass in der Literatur das Prinzip gilt: Nichts ist unmöööglich.
Locarno, ebenfalls am Lago Maggiore, das sind hochflorig grüne Hänge, offensichtlich ein Paradies für Kräne. Mehr als ein Dutzend, die rund um die berühmte Madonna del Sasso stehen. Deren Kirche ist wegen Renovierung geschlossen. Hinter dem Berghang die hohen Berge, die ihre weißen Häupter schütteln, während die Wellen des Sees es nicht leid werden, an der Strandpromenade genüsslich schmatzend auf die ausgehängten Speisekarten hinzuweisen.
Wo die Fische, diese unbekannten Bewohner der Tiefe, scheinbar in unendlicher Fülle vorhanden, nur noch verzweifeln können, umzingelt wie sie sind von den in die Hänge gedrückten Behausungen der Menschen, Fischfresser fast alle, die ihre Häuser mit gierigen Rechteckaugen bestückt haben, das Wasser im Blick, das sich unwirsch kräuselt, sich abzuwenden versucht, – da bleibt der kluge Fisch lieber in der Tiefe.
Nicht nur die Fische im See sind nicht zu sehen, auch die Grenze zu Italien bleibt unsichtbar. Unmerklicher Übergang, ohne Passkontrolle. Sehr ungewöhnlich für die hermetisch abgeschottete Schweiz. Per Schiff aus einer Welt in die andere. Wie beim Auswandern. Und wieder fehlt das Zwischendeck für Auswanderer. Das Boot ist italienisch, also klassenlos, jedoch ohne jeden Hinweis für die Reisenden, bis auf die Flagge am Heck. Leicht zu übersehen. Also bleibt die Einstellung in der Kamera unverändert, und auch alles weitere, was der See zu bieten hat, wird unter Schweiz gespeichert.
Isola Bella im Lago Maggiore, Insel der Schönheit, nichts kommt dir gleich …, so die von Paul Lincke vertonte Schlagerversion. Die reale Version zeigte sich mir nach dreieinhalb Stunden Schiffsreise. Eine Insel, die in ihrer ganzen Breite von einem fettärschig aufgesetzten Palazzo eingenommen wird, hinter dem ein ebenso behäbiger französischer Garten den Rest des Eilands füllt, von den paar Häusern und Klimbimläden und Futterplätzen für Touristen an der Schiffslände abgesehen. Napoleon hat auf seinem Italienfeldzug in dem Riesenschloss kampiert, das sich die schwerreiche Fürstenfamilie Borromäus erbaut hatte. Die Familie hat einer ganzen Inselgruppe den Namen gegeben: Borromäische Inseln, u. a. Isola Bella, Isola Pescatori und Isola Madre. Dabei war mir der Name Borromäus bisher nur von den katholischen Büchereien her bekannt, als ein Markenzeichen der speziellen Tendenzliteratur. Dort im Schloss sah ich ihn nun stehen, als überlebensgroße Plastik, den heiligen Carl Borromäus, den Aussteiger aus dem Luxusleben. Hat doch jede Familie einen, der aus der Art schlägt. Die Schlossinsel, so lese ich in einer unauffälligen Randnotiz der Palastbeschreibung, hatte ihren Namen zu Ehren der verstorbenen Frau Isabella eines der Borromäusfürsten bekommen. Ein späteres, mundfaules Jahrhundert hat aus der Isola Isabella jedoch die Isola Bella werden lassen. As time goes by.