Paris am 31. Oktober 2005

Mit Friedrich Hebbels Gedicht unterwegs: “Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah.”
Die totale Desorientiertheit, früher zeichnete man sie mit dem Bild: Die rechte Hand weiß nicht, was die linke Hand tut. Jetzt weiß ich: Die moderne Großstadt ist solch ein mißglückter Körper, dessen einzelne Glieder sich verselbständigt haben und tun, was sie wollen. Ergebnis einer Wochenendvisite in Paris.

Paris

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Wir waren den lieben langen Sonnentag herumgebummelt und hatten nur bedauert, daß der Tag kein Sonntag war, sondern ein Montag und daß montags alle Museen geschlossen sind. Alle bis auf das Centre Pompidou. Waren mit der Metro dorthin gefahren und hatten vor der mehrere hundert Meter langen Schlange am Eingang kapituliert und lieber die Schenke gegenüber aufgesucht. Weiterwandern und weiterfahren und bei Notre-Dame das gleiche Erlebnis. Auch gut. Ohnehin zu schön der Tag für den Ausstieg ins Museum oder in die Kirche. Doch dann ebenfalls lange Schlangen am Eiffelturm.  Also weitergegangen mit der Zeile im Kopf: „Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah.“ Trotzdem bald wieder eingekehrt, in ein Bistro, in ein Café, weil die Straßen, die Metro-Bahnhöfe überschwemmt waren von lustwandelnden, dahin und dorthin drängelnden und alles digitalisierenden Menschen, zwischen denen man sich kaum vorwärts bewegen konnte. Toute la ville auf den Beinen.

Also den Blick nach oben und feststellen: Eine Stadt, die nicht von den Engländern und Amerikanern plattgebombt wurde, hat auch ihre Reize. Verständlich, daß die überfüllten Ausflugsboote auf der Seine fast ganz aus Glas sind, schwimmenden Gewächshäusern im Herbst gleich.

Am Abend dann das verabredete Treffen mit den Pariser Freunden und ein gemeinsames großes Festessen im Saal des ehemals recht prächtigen Stadthotels La Muette im 16. Arrondissement, nahe beim Bois de Boulogne. Und das Staunen über die abendlich Leere des Restaurants, über die Straßen ohne Menschen und fast ohne Autos. Komische Leute, die Pariser, nicht gesagt, aber gedacht. Haben sie doch morgen einen Feiertag, genau wie wir. Und ist es doch immer noch sommerlich warm. „Die Luft ist mild, als atmete man kaum.“ Hatte man doch dasselbe Carré am Abend zuvor noch in quirliger Überfüllung erlebt. Da hatte man nicht einmal mehr die typische Pariser Hundepißstruktur auf den Trottoirs erkennen können. „Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, die schönsten Früchte ab von jedem Baum.“

Paris

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An der noch schlaftrunkenen Rue de Passy – kaum Autoverkehr, schnarchsanfte Frühe –  fertigmachen zur Heimfahrt am Allerheiligenmorgen. „O stört sie nicht, die Feier der Natur!“ Während die alten Damen des Quartiers zuverlässig umherschleichen und ihre Hündchen zum Entwässern und Entschlacken ausführen, – „Dies ist die Lese, die sie selber hält.“ – laden wir unser Reisegepäck in die Wagen. Da hören wir einen Schuß, schauen uns erstaunt an und schütteln ungläubig den Kopf. „Denn heute löst sich von den Zweigen nur, was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.“
An den überreich schnörkelverzierten Fassaden der bis zu zehn Stockwerke hohen Wohnpaläste aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende öffnet sich kein einziges Fenster. Also Abfahrt. Die Stimme der Führerin des Navigationssystems ist so freundlich neutral wie immer.

Doch die Neuigkeiten aus Paris sind schneller als wir. Endlich daheim angekommen, sehen wir in den Fernsehnachrichten die grellen Bilder von Straßenschlachten mit  brennenden Polizeiwagen, sehen Feuerwehren und Notärzte im Einsatz, wo hohe Flammen aufzucken und Qualm bemüht ist, sich besänftigend über alles zu legen. Und hören: Die Ausschreitungen dehnen sich immer weiter aus. In den Vororten wurden Hunderte Brände gelegt, Polizeistationen angegriffen, es gab erste Fälle von Plünderungen, einige hundert Festnahmen, viele Verletzte. Ausgelöst wurden die Unruhen der nordafrikanischen, meist jugendlichen Immigranten in den Sozialbausiedlungen, durchweg arbeits- und chancenlos und drogenabhängig, durch den Tod von zwei Jugendlichen, die auf der Flucht vor der Polizei über zwei Mauern geklettert und in den tödlichen Stromschlag eines Zwanzigtausend-Volt-Transformators gesprungen waren. Sitzen da in unseren Fernsehsesseln und hören mit ungläubigem Erstaunen: Das begann in unserem Herbstlied-Paris, nicht weit von unserem Hotel entfernt, gleich nördlich vom Bois de Boulogne, in Clichy-sous-Bois, und ergreift jetzt immer weitere Teile des Elendsgürtels um Paris, liebevoll die Banlieue genannt. Und hören den martialisch aufgerüsteten Polizisten sagen: „Das ist Krieg.“ – An diesem Herbsttag, wie ich keinen sah.

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