Lola rennt

(BRD 1998, 75 Minuten, Buch und Regie Tom Tykwer)

Der Freund ruft verzweifelt aus der Telefonzelle an. Er hat die Plastiktüte mit dem Haufen Geld des Drogenbosses in der U-Bahn liegengelassen und muß nun in 20 Minuten die 100.000 Mark wieder ranschaffen, sonst wird er erledigt. Er sieht keinen anderen Ausweg als einen Überfall auf einen Supermarkt. Seine Freundin beschwört ihn, in der Telefonzelle auf sie zu warten, sie werde ihm helfen, und rennt los. Ihr Lauf durch Berlin, ein Rennen gegen die Uhr, wird dreimal gezeigt. Der erste Lauf endet mit ihrem Tod, der zweite mit seinem Tod und erst der dritte mit vollem Erfolg.

Einige Jahre nach seinem vielbejubelten Start hat dieser Kultfilm immer noch nichts von seinem Reiz verloren. Da ist es an der Zeit, sich zu fragen, worin das Besondere des so kurzen wie kurzweiligen Streifens liegt. Das, was über die technischen Tricks, die Einfügung von Comic-Elementen und die überraschenden Bewußtseinsanalysen in Schnellschnittmanier hinausgeht.

Hier ist als erstes zu nennen: Die Chance zum zweiten und dritten Versuch. Zweimal eine Scharnierszene im Halbjenseitigen eingebaut, mit faszinierender Lichtführung verfremdet, in der sie beim ersten Mal sagt: Ich will aber nicht tot sein. Und beim zweiten Mal über ihn: Du bist aber nicht tot. Und schon klappt die Tür zum Leben wieder auf. Das ist der atavistische Menschheitstraum von der Wiederauferstehung. Dazu kommt noch die Anbindung an das uralte Märchenmotiv, daß etwas erst beim dritten Anlauf gelingt, was zum geflügelten Wort wurde: Alle guten Dinge sind drei.

Dazu kommt, daß die Hauptpersonen bekannte Typen spiegeln. Hier wird postmodern zitiert. Lola ist rothaarig wie Pumuckel, aber wie sie immer wieder auf Hindernisse trifft, ist sie der Tramp Charly Chaplin, halbperfekter Laufstil statt Watschelgang, und wie sie gemeinsam mit ihrem Freund um die Ecke fegt, beide einen Revolver in der Faust, ist sie auch Bonnie mit Clyde, doch wenn sie dem Schwerverletzten im Krankenwagen das Leben einfach dadurch wiederschenkt, daß sie seine Hand hält und ihn freundlich anschaut, ist sie einer der rettenden Engel aus den Familienserien. Ihr Freund schreitet wie John Wayne zu allem bereit auf den Supermarkt zu und steht zum Schluß völlig verdutzt da, als wollte er sagen: Ich glaube, das ist der Beginn einer großen Liebe.

Besonders reizvoll ist natürlich, wie drastisch und pauschal die Institutionen demontiert werden. Die Familie ist kein Rettungsanker, weil die Eltern viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Auch von den Banken ist keine Hilfe zu erhoffen. Der klassische Nothelfer Kirche wird mit den konsterniert zuschauenden Nonnen als obsolet abgetan. Die Polizei hilft allenfalls mal aus Versehen. Und der hilfsbereite Mitmensch, hier ein Radfahrer, bietet ein faules Geschäft an.

Zum Erfolgsrezept des Films gehört nicht zuletzt, wie er den vom Theater bekannten Begriff der Zeiteinheit filmisch umsetzt: Die Darstellung nicht länger und nicht kürzer als in Wirklichkeit. Für Puristen ist das ein Gesetz. Hier läuft die Handlung in exakt zwanzig Minuten ab. Die von dem Drogenboss gesetzte Vorgabe. Indem die Handlung aber dreimal gebracht wird, sind das schon sechzig Minuten. Den Rest füllen Vorspann und die beiden Scharnierszenen im Halbjenseitigen sowie die Schlußeinstellungen. Also nirgends eine überflüssige Szene. Da kann man mit recht von einem flott gemachten Film sprechen.

Angenehm, daß alle Brutalität nur angedeutet wird. Sogar die dem ganzen Film das Tempo gebende angedrohte Bestrafung durch den Drogenboss. Es geht also auch ohne gräßliches Überzeichnen und viel Ketchup. Daß Lola mit ihrer schrillen Stimme Gläser zerspringen läßt, ist eine simple Anleihe bei Günter Grass, daß der Rettungswagen in die über die Straße getragene große Glasscheibe fährt, ist ein alberner Slapstick-Aufguß, beides nur damit zu rechtfertigen, daß wohl die alte Volksweisheit illustriert werden soll: Glück und Glas, wie leicht bricht das.

Ein Film, der mehr bringt als bloße Unterhaltung. Weil er unser generelles Ausgeliefertsein an die tausend Zufälle des Lebens zeigt. Und einmal vorführt, was das Leben nie zeigt: So ganz anders wäre alles gelaufen, wenn diese eine Kleinigkeit nicht so sondern so passiert wäre. Und weil er uns, die wir wie blinde Hühner durchs Leben rennen, einen Trost mit auf den Weg gibt, mit dem er die Pumuckel-Lola schon fast zu Fausts Gretchen werden läßt: Wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen.

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