Kreuzfahrt ans Ende der Welt – Nordkap und Spitzbergen (2018)

 

Aber bitte bequem, so heißt die Devise. Deshalb schon am Vortag der Norwegen-Kreuzfahrt mit dem Intercity ohne Umstieg in sechs Stunden von Mannheim nach Kiel. An einem heißen 10. Juni. Das Zimmer im Interncityhotel am Hauptbahnhof Kiel ist reserviert. Kiel als erstes Reiseziel, Kiel ganz oben in Deutschland. Da kommt einem der dumme Ausdruck kieloben in den Sinn. Nur gut, dass man nicht an böse Omen glaubt. Ist bloß sonderbar, dass ein so wichtiger Begriff aus dem Schiffbau zum Namen einer Großstadt wurde. Immerhin ist der Kiel so was wie das Rückgrat, auf dem sich das ganze Schiff aufbaut. Und jetzt wird die Randlage-Stadt Kiel auf einmal zu einem der wichtigsten Rückenwirbel des neuen Hits Kreuzfahrttourismus.  

 

Wie ich vom 12. Deck des Riesenkahns „Mein Schiff 4“ im Kieler Hafen hinunterschaue auf das Gewusel der Autos, Fahrräder und Busse, der Touristen und Hafenarbeiter tief unter mir, erscheint mir das Auf und Ab und elegante Segeln der Möwen als viel ordentlicher und sinnvoller als all das umständliche menschliche Tun. Geht es den Überfliegern doch einfach nur ums Leben und Überleben. Aber würde mir das reichen?

Noch kein Ablegen. Am Nebentisch im Café des 12. Decks die vier Männer aus fernen Ländern, in Jeans und Karohemden, mit Mitarbeiterkärtchen am Gürtel. Männer mit harten Gesichtern. Sie sind keine Jugendlichen mehr, haben aber jeweils ein Mobilphon in der Hand und sind konzentriert beim Herumtippen. Und wenn sie einmal etwas sagen, dann in einer fremden Sprache, die ich nicht identifizieren kann. Auf einmal die Metamorphose: Einer nach dem anderen hat plötzlich das Gerät am Ohr und ein glücklich lächelndes Gesicht. Und ich verstehe: Endlich Kontakt zur Heimat.

 

Wir fahren entlang der Ostküste Dänemarks nach Norden bis zum Skagerrak, unpassende Erinnerung an die Seeschlacht von 1916, in der fast neuntausend britische und deutsche Seeleute einen fragwürdigen Heldentod gestorben sind. Dann nach Westen und um die Südkuppe Norwegens herum weiter nach Norden.

In unserer Kabine

Ich bin gut vorbereitet, habe ich doch in dem Baedeker-Reiseführer Schweden und Norwegen aus dem Jahre 1906, den ich in einem Antiquariat entdeckt hatte, allerlei gute Ratschläge gefunden. Etwa den für Passagiere der Dampfschiffe: „Es besteht keinerlei Zwang zum Weintrinken. Man zahlt am besten täglich, um jede Gelegenheit zu ‚Irrtümern’ zu vermeiden; einzelne Kellner sind von der Kultur bereits beleckt.“ Der alte Baedeker bietet dann wertvolle Tipps für Reisende mit viel Zeit, etwa für einen Norwegenbesuch von vier bis fünf Wochen, aber auch für einen Kurzbesuch von nur achtzehn Tagen. Wobei er schon warnt: „Ob man bei Gesellschaftsreisen auf den großen Vergnügungsdampfern seine Zwecke erreicht, muß jeder für sich entscheiden. Zweifellos lernt man auf ihnen sehr bequem einige der schönsten Strecken kennen, besonders wenn man die Gelegenheit zu kurzen Landreisen immer benutzt. Im allgemeinen wirkt jedoch der wochenlange Aufenthalt auf demselben Schiffe abspannend und macht das Gemüt für die Eindrücke der Reise minder empfänglich. – Für andere Reisende ist es unangenehm, in den Strom der aus den Vergnügungsdampfern an Land gehenden Scharen zu geraten, da diese bisweilen alle Wagen in Anspruch nehmen und die Gasthäuser füllen.“

 

Ich habe den Baedeker von 1906 dann doch zuhause gelassen. Ich habe ja ganz andere Vorkenntnis schon aus dem Kleinen Schiffs-Reiseführer für KdF-Fahrten. Im Übrigen habe ich selbst in meinem 1969 bei Econ in Düsseldorf erschienenen Sachbuch „Welt hinter dem Horizont“ die NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ geschildert, das große Wohlfühlprogramm des Dritten Reiches für den Kleinen Mann. 1933 gegründet, von dem Reichsorganisationsleiter Robert Ley entscheidend geprägt, aber mit Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend eingestellt, sollte KdF zur Stärkung der Volksgesundheit und der Produktivität, aber auch zur Identifizierung mit dem Nationalsozialismus beitragen, zur Stärkung des Nationalstolzes und des Gemeinschaftsgefühls. Mit Reisen per Bahn oder Schiff zu geringsten Preisen, aber auch mit Theaterbesuchen, Bunten Abenden oder Schachturnieren sowie mit dem Sparen für den KdF-Wagen, der erst nach dem Krieg ausgeliefert werden konnte, als Volkswagen. Die KdF-Bewegung hatte schon bald rund dreißig Millionen eingeschriebene Mitglieder. Neben Reisen mit den KdF-Rheindampfern und der Donauflotte war natürlich die Hochseeflotte die besondere Attraktion. Zunächst waren vier Schiffe gekauft worden, „Der Deutsche“, „Sierra Cordoba“, „Stuttgart“ und „Oceana“. Das erste direkt für KdF-Bedürfnisse gebaute Schiff war die „Wilhelm Gustloff“, ihm folgte die „Robert Ley“, zwei große Dampfer von etwa 25.000 und 27.000 Bruttoregistertonnen, die klassenlosen Urlaubsgenuss boten. Die KdF-Fahrten führten nach Italien und zu den italienischen Besitzungen in Jugoslawien und Nordafrika oder zur portugiesischen Insel Madeira, mit einer kurzen Besichtigungsfahrt durch Lissabon und einem zweitägigen Aufenthalt auf Madeira. Reisen, bei denen sogar Kontakte mit den Einheimischen möglich waren. Das erschien den Organisatoren damals bei der Fahrt zu den norwegischen Fjorden nicht opportun. Das KdF-Schiff fuhr zwar bis in den Vorhafen von Bergen ein, drehte dort jedoch ohne anzulegen. Und ebenso wurden der Hardangerfjord und der Sognefjord nur vom Schiff aus bewundert. Dafür war die Mitnahme eines Fernglases empfohlen worden. Und bis hinauf zum Nordfjord oder sogar zum Geirangerfjord kam man nicht. Da sind wir mit unserem Ausflugsprogramm doch viel besser dran.   

Im Geirangerfjord

Doch habe ich schon am zweiten Tag das schreckliche Gefühl, ein Nachfolger ignoranter Kolonisten zu sein. Weil ich mich auf dem Schiff  vom Morgen bis in die Nacht umgeben und wortlos bedient sehe von Menschen mit dunklerem Teint und anderer Augenform. Menschen aus der Südsee, aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Da ist der korpulente und doch wieseleifrige junge Türke, und da ist die hübsche junge Frau aus Kirgisien. Die meisten Servicekräfte kommen wohl aus Malaysia, von den Philippinen und aus Indonesien. Für mich kaum zu unterscheiden. Und allen gemeinsam dieses servile Gehabe. Man schaut mir jeden Wunsch von den Augen ab, ich brauche nur einen Wink zu geben. Dabei deute ich bloß an, was ich will. Ich schwinge keine Peitsche, Gott bewahre, und doch entscheide ich über das Wohl und Wehe dieser fremden Menschen und ihrer fernen Ehepartner und Kinder, wenn nicht einer ganzen Großfamilie. Ich beherrsche sie mit den Trinkgeldern, die sie erwarten und die ich gern gebe. Peinlich, peinlich.

 

In einem der Bordrestaurants auf der Getränkekarte entdeckt, dass zwar fast alle alkoholischen Getränke im Reisepreis enthalten sind, dass aber Gerolsteiner Mineralwasser extra zu bezahlen ist. Auch die Mineralwasserflaschen auf der Kabine kosten extra, während mir gerade noch an der Bar die exklusivsten Schnäpse ohne Bezahlung präsentiert wurden. Da fällt man gleich in die Rolle des kritischen Zeitungslesers zurück: Habe ich doch gelesen, dass es Gerichtsurteile gibt, wonach es in Deutschland den Restaurants und Bars verboten ist, Wasser teurer zu verkaufen als Alkohol. Weil das eine perfide Verführung zum Alkoholismus darstellt. Aber das ist deutsches Recht, und dieses Touristenschiff fährt unter maltesischer Flagge, Heimathafen Valletta. Gilt deshalb hier an Bord maltesisches Recht? Doch wohl nur für die besonders ungünstigen Arbeitsverträge mit den Mitarbeitern. Fünf bis sechs Monate am Stück arbeiten, dann zwei Monate Urlaub, so habe ich gehört.

 

Das Schiff soll acht Meter Tiefgang haben. Und es hat über der Wasserlinie 14 Decks – die Nummer 13 fehlt traditionsgemäß –, alle etwa 2,20 Meter hoch. Also ein Hochhaus von etwa 30 Metern Höhe. Wahrhaftig ein stattliches Haus, das sich sehen lassen kann. Jeder nimmt die Kamera, das Tablet oder das Smarty in die Hand und versucht, diese gewaltigen Dimensionen aufs Bild zu kriegen. Und wartet auf die Gelegenheit bei größerem Abstand. Immer noch besser als sich Gedanken darüber zu machen, wie sich dieser gewaltige Apothekerschrank mit seinen über tausend Schubladen in der Balance hält.

 

Solange die See sich nur etwas mehr als brackelig zeigt, ist mir das kein Problem. Noch wie der Wind auffrischt und Schaumköpfe auf die Wellen setzt, kann mich das sanfte Schwanken des Schiffs nicht beeindrucken. Weil es nicht stärker ist als in einem japanischen Hochhaus, dort nur aus anderem Grund. Aber als bei der Ausfahrt aus dem Geirangerfjord hohe Wellen zu breit angelegtem Angriff übergehen und unser Schiff sich nach Steuerbord und Backbord zu verneigen zwingt, kommen mir doch störende Vorstellungen in den Sinn. Ich sehe das Schiff als ein Riesenei im Meer stecken, nur die Spitze im Wasser, das Bauchige aber weit darüber hinaus ragend. Und wie ich mir klar mache, dass diese Spitze nur etwa ein Viertel des Rumpfs ist, das die anderen drei Viertel im Gleichgewicht halten muss, kommt mir Kolumbus in den Sinn, wie er ein Ei zum Stehen gebracht hat. Einfach hart aufgesetzt. – Nein, so bitte nicht, lieber Herr Neptun!

 

Die See, sie wird mit Doppel-E geschrieben. So hat man es gelernt. Wenn ich jetzt über diese Weite von schwärzlicher Wellenfläche schaue, die sich in jedem Augenblick verändert und doch immer gleich bleibt, möchte ich die See mit Millionen E schreiben. Weil das E der meistgebrauchte Buchstabe meines Alphabets ist. Also großzügig Tropfen für Tropfen meiner Ausdrucksmöglichkeiten spenden für dieses unendliche Wellendunkel, das ich damit doch nicht in den Griff kriege.

Was ist hier unter den Passagieren das Zwischenmenschliche? Typisch ist wohl dieses so wenig wie möglich mit den anderen zu tun haben Wollen. Man sitzt im Restaurantbereich, in irgendeinem, ganz egal, was für einen schönen maritimen Namen er trägt, und wundert sich, wie reibungslos dieses Sich-Abkapseln klappt. Kaum einer hat noch einen Blick für die kabbelige See da draußen. Dabei trennt die doppeldicke Fensterscheibe uns behutsam von einem ganzen Kosmos der Dramatik. Von dieser Unzahl von Lebewesen aller Art und Größe, die einander nach dem Leben trachten. Und das bloß, um zu überleben. Eine schreckliche Vorstellung, die Maler wie Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel der Ältere uns vermittelt haben. Lieber wieder den Restaurantbesuchern zuschauen, die nicht wissen, was sie noch essen und trinken sollen, um die Zeit zu füllen. Was sind dagegen die Tragödien, die unter der scheinheilig übergeworfenen Meeresdecke geschehen, gnadenlos und pausenlos. Aber, think positive, auch tolle Lovestorys müssen dort unten ablaufen, genauso pausenlos und zahllos. Tragödien und Lovestorys weit mehr als die ganze Weltliteratur zu bieten hat. Natürlich finden dort unten auch Kurzgeschichten statt, massenhaft, doch es gibt keine Lyrik und keine Komödien. Denn was dazu gehört, das fehlt in den sieben Weltmeeren, so überfüllt diese Unterwasserwelt uns erscheint. Fehlt der nackten, nassen Natur doch jeglicher Esprit.

 

Auf der Fahrt entlang der Fransen-Küste Norwegens geraten die Tageszeiten aus den Fugen. So könnte man das Verschwinden der gewohnten Ordnung von Hell und Dunkel bezeichnen. Denn die hier herrschende Helligkeit ist nicht mehr die Schwester der Dunkelheit, nicht mehr ihr Pendant und ihre Alternative, durch die sie definiert wird. Hier herrscht eine beständige, eine hartnäckige Helligkeit, die sich nicht vertreiben lässt. Und um festzustellen, wann denn nun der Tag zu Ende ist und die Nacht beginnt, muss ich die Uhr um Hilfe bitten. Was für eine Überraschung: Nirgends ist die Uhr wichtiger als hier, wo die Natur den an die Wippe von Hell und Dunkel gewohnten Menschen ein Sommerhalbjahr mit unausweichlichem Helligkeitsüberfluss spendiert und sie dafür anschließend in einem Winterhalbjahr voller Dunkelheit herumtappen lässt.

 

Ich lese: Bergen ist die zweitgrößte Stadt Norwegens. Und ich finde, Bergen ist eine Stadt, in der man sich fast noch zuhause fühlt. Hat Bergen doch die Tyskebryggen, kurz Bryggen, das alte Hanseviertel, in dem die deutschen Kaufleute lebten. Wenn diese Holzhäuser auch immer mal wieder abgebrannt sind, sie wurden doch immer wieder originalgetreu auf denselben Fundamenten aufgerichtet. Deshalb: Wer das Schiff verlässt, geht zu den Bryggen, der Deutschen Brücke. Zuverlässig, unausweichlich. Als ob man noch von dem Geruch der damals massenweise in Fässern transportierten Dorsche angezogen würde. Oder von dem Duft der Säcke voller Salz oder Getreide. Vom importierten Leinen und vom großen Geld, das hier gemacht wurde, aber nicht stank. Oder von der Risikobereitschaft und dem Gottvertrauen der tausend Kaufleute, die hier im Deutschen Kontor gleichzeitig lebten und arbeiteten. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis weit hinein ins 16. Jahrhundert hielten die Herren der Hanse das Monopol des norwegischen Stockfischhandels. Ich kann mir kaum einen größeren Kontrast vorstellen als den zwischen dem Kreuzfahrtschiff, auf dem wir eine Balkonkabine zwei Wochen lang „unsere“ nennen dürfen, und den mit wertvollen Waren vollgestopften Hansekoggen von vor 500 Jahren.

Auf Kreuzfahrt zu gehen, das ist das neue Kennzeichen einer saturierten Gesellschaft, die sich für kaum noch etwas interessiert, neben dem Essen und Trinken. Pardon, nicht zu vergessen die Fußballweltmeisterschaft, die gerade in Russland beginnt. Man isst mehr als man Hunger hat, und trinkt mehr als man durstig ist. Dabei haben die meisten Passagiere die lästigsten Probleme ihres Alltags schon mit an Bord gebracht: Gewichtsprobleme. Mit Sicherheit werden sie nach den zwei Wochen Kreuzfahrt bereichert von Bord gehen.

 

Das Schiff offeriert per Bildschirm ein Extra-Paket von Vorteilen, die mich nicht reizen. Dazu gehört exklusiveres Essen und Edelmarken-Getränk oder täglich ein Ausdruck einer gewünschten großen Tageszeitung und kostenloses WLAN. Offensichtlich der Versuch, für einen Aufpreis eine Art 1. Klasse in der Arche der dicken Ä… einzuführen. Pardon, aber das Wortspiel ist zu reizvoll. – Ich sage zu diesem Sonderangebot: Nein, danke.

Bei der Ausfahrt aus dem Geirangerfjord wird es stürmisch. Das heißt, die schmucken Schaumköpfe auf den Wellen werden auf einmal breitgeweht, werden zu großen weißen Klatschen auf dem Halbdunkel des Wassers. Erschreckend, das Meer, wo es nicht das Kuhfellweiß zeigt, ist auf einmal nur wenig dunkler als der Himmel. Als wollte es sich mit ihm zusammentun. Gegen uns.

Das Hin und Her an Bord bietet immer neue Begegnungen. Und wenn man will, auch Gespräche. Und damit neue Bekannte. Das war zuerst ein Ehepaar aus Berlin, dann das Paar aus Weimar, danach die Paare aus Dresden, Herford und Worms. Ihnen folgten die Paare aus Magdeburg und Erfurt. Also immer wieder ehemalige DDRler. Dafür hat man in der Statistik die Bezeichnung überzufällig. Woraus ich folgere, dass die Veranstalterin der Kreuzfahrt, die TUI, den ehemaligen Machthabern der DDR dankbar sein muss, weil sie die Leute vierzig Jahre lang eingesperrt  hat. Selbst dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer lässt das nur zu verständliche Nachholbedürfnis in Hannover die Kasse klingeln. 

 

Was nicht zum Programm einer Reise gehören sollte: ein Notfall. Ausgerechnet auf Höhe der Lofoten, wo keine größere Ortschaft in der Nähe ist, gibt es ihn. Und damit eine unruhige Nacht, die ohnehin eine einzige Schaukelei ist. Das Bett wackelt in jeder Richtung. Schwere Wellen setzen dem großen Schiff erstaunlich stark zu. Dann die Durchsage des Kapitäns, ein kranker Passagier müsse ausgeschifft werden. Was für ein erschreckender Ausdruck, Ausschiffung auf hoher See. Doch dann die Erklärung, man warte auf den Rettungshubschrauber. Also im Nachthemd auf dem Balkon und den Himmel abgesucht. Der Lärm kommt schnell näher. Und dann gibt es ein für die Zuschauer faszinierendes Spiel mit der Nähe. Der Hubschrauber steht dicht vor der Brücke des Schiffs in der Luft, ein wenig höher als das Schiff. Und dieses dauernde Hin und her, etwas näher und etwas tiefer. Bis sich die Seite des Hubschraubers öffnet und ein Mann sich am Seil auf unser Schiff herablässt. Dann dauert es für die Zuschauer viel zu lange, bis endlich eine Trage am Seil herabgelassen wird. Und noch einmal ein endlosen Warten, bis diese Trage mit einem darauf festgebundenen Paket, das ein Mensch sein müsste, wieder hochgezogen wird. In halbwegs waagerechter Lage am stark schräg hängenden Seil. Dabei der Gedanke: Wenn der Hubschrauber mit seinen Rotorblättern die Kapitänsbrücke berührt, ist unsere Reise beendet. Weil Brücke zerstört, Hubschrauber abgestürzt. Aber alles gut, und auf einmal ein viel ruhigeres Bett, weil das Schiff den Kurs geändert hat, etwas mehr den Wellen angepasst. Da kann man beruhigt einschlafen mit dem besserwisserischen Gedanken, dass so ein großes Schiff eigentlich auch einen Hubschrauberlandeplatz haben müsste. Wie konnten die Konstrukteure nur so was Wichtiges vergessen?

Zum dritten Mal am Nordkap. Nach meinen Besuchen als Reiseleiter der Dr. Tigges-Fahrten und der Karawane-Studienreisen Anfang der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Natürlich habe ich nichts mehr wiedererkannt außer dem stählernen Ungetüm von Globusgerippe, durch das nach wie vor der Wind pfeift. Heute steht im Zentrum des Interesses beim Publikum eine große Halle mit in den Fels hineingesprengten drei Untergeschossen. Da sehe ich die Geschichte des deutschen U-Boot-Krieges 1941-1944 gegen die Materiallieferschiffe dargestellt, die von den USA in die Sowjetunion geschickt wurden. Ausführlich berichtet wird über das Schicksal des deutschen Begleitschiffes, des Schlachtschiffs „Scharnhorst“, das mit seinen 1.900 Mann an Bord nach heldenhaftem Kampf von britischen Zerstörern versenkt wurde. Eine angenehm neutrale Schilderung und ausdrückliche Anerkennung für die tapferen deutschen Seeleute. Draußen auf dem Plateau ein Gedenkstein für den König Oskar II. von Norwegen und Schweden, der 1873 diesen Felsklotz zu Fuß bestiegen hat. Ein Gedenkstein für den französischen König Louis Philippe, der 1795 auf dem Nordkap war, ist in eine Grotte unter der Halle verbannt worden. Keinerlei Hinweis mehr finde ich auf den deutschen Kaiser Wilhelm II., der mehrfach das Nordkap besucht hat. Bei meinen früheren Besuchen konnte ich dort noch seinen Gedenkstein bestaunen. Muss ich so hinnehmen. Wo die Landschaft sich nur in den extrem langsamen Schritten der Urlandschaft verändert, sorgen wir Menschen durch unsere kurzfristig wechselnden Vorlieben und Erinnerungen oder Aversionen für Wandel. Bleibt doch ein Grundgesetz unserer Seele: Variatio delectat. 

 

Die Lounge im Bug unseres Schiffes trägt den schönen Namen Himmel & Meer, und sie kann tatsächlich nicht mehr zeigen als Himmel und Meer. Doch fällt mir dabei ein: Während die Menschheit sich für den Himmel die tollsten Dinge ausgedacht hat, die dort oben versteckt sein sollen, um uns von der Erde weg und in höhere Dimensionen zu locken, hat dieselbe Menschheit für das, was unter der Meeresoberfläche verborgen ist, nur sehr wenig übrig. Als ob wir nicht an unsere Vorfahren und deren Leben als Seewesen erinnert werden wollten. Wir sind ja Wesen mit Vergangenheit, mit peinlicher sogar.

Spitzbergen, ja, beim ersten Anblick spitziges Bergland, weiß eingeschneit. Wie das Reich der Frau Holle. Doch nach einer langen Fahrt durch den Hauptfjord des Archipels Svalbard, wie die Norweger Spitzbergen nennen, zum Hauptort und sofort ein ganz anderer Eindruck. Schon der Name der Ortschaft ist weit aufwendiger als der Ort selbst: Longyearbyen. Zusammengesetzt aus dem Namen des ersten Unternehmers, der dort die Ärmel aufgekrempelt hat, ein Amerikaner, der Kohlevorkommen ausbeuten wollte, und dem norwegischen Begriff für Ortschaft: Byen, gesprochen: Bien.

Der Ort macht sich allmählich aus der Umarmung der tief hängenden Wolken frei. Dabei verrät sich die adlige Herkunft, denn der Platz zeigt sich von majestätischer Wucht umgeben. Von altehrwürdigen Tafelbergen, deren waagerechte Schichtung für ruhige Kontinuität steht. Und für ein einheitliches Schicksal. Sie alle sind von derselben gewaltigen Kraft abgeschliffen worden, die am Ende einer Eiszeit eine neue Welt schuf. Dazu jetzt noch die Vorstellung aktiviert, dass der ganze Inselkomplex eine gewaltige Wanderung gemacht hat, aus der Nähe des Südpols zur direkten Nachbarschaft mit dem Nordpol, eine Zeitreise, die für uns unvorstellbar ist. Damit ist das Märchen von Frau Holle weit übertroffen.

 

Longyearbyen ist die nördlichste ständig von Menschen bewohnte Siedlung der Erde, so erfahre ich. Direkt am Fuß eines Gletschers gelegen. Dort zu stehen, das ist schon allein deshalb ein erhebendes Gefühl. Dann nimmt man die üblichen Informationen auf: Insgesamt sollen etwa 2000 Menschen auf Spitzbergen, diesem nördlichen Ableger Norwegens, leben. In enger Nachbarschaft mit den rund 3000 Eisbären, deren Heimat Spitzbergen ist. Deshalb ist es nicht erlaubt, sich außerhalb des Ortes ohne bewaffneten Führer zu bewegen. Diese Führer haben nicht nur ein Gewehr für den äußersten Notfall dabei, sie haben vor allem Gerätschaften zum Abschrecken von Eisbären bei sich. Ein paar Holzhäuser mitten in der aus zwei im rechten Winkel zueinander liegenden Straßen bestehenden Hauptstadt der Insel sind Studentenheime. Der Ort rühmt sich, die nördlichste Universität der Welt zu beherbergen. Rund dreihundert Studenten, von denen allerdings meist nur die Hälfte anwesend ist. Der gesamte Lehrbetrieb, der sich in erster Linie um arktische Wissenschaften dreht, geschieht auf Englisch. Hinter den Schneebergen versteckt liegt die kleine russische Bergbausiedlung Pyramiden, die diesen schönen Namen nicht zufällig trägt.

Ein Pulk kleiner weißer Kreuze erinnert an die Toten des Ortes, deren Körper aber nicht mehr dort liegen. Weil das der unpassende Platz für Tote war. Erstens ist es sehr mühsam, im harten Permafrostboden ein Grab zu schaufeln, zweitens wird man die Toten auf die Weise nie los, weil der kalte Boden die Leichen tiefgefroren erhält. Angeblich wird auf Spitzbergen weder gestorben noch geboren. Was allerdings gegen den stolzen Satz von der ständig bewohnten nördlichsten Insel der Welt spricht. Zudem lässt sich das Gebären und Sterben bekanntlich nicht so gut organisieren. Gemeint ist wohl, dass auf Spitzbergen weder beerdigt noch eine Geburtsurkunde ausgestellt wird. Dafür ist eine Reise auf das ferne Festland Norwegens notwendig.

Spitzbergen war einmal wichtig als Energieversorger. Acht Kohlengruben gab es einst. Jetzt hängen die Loren arbeitslos an der Seilbahn, die über eine Unzahl von Holzgerüsten als Stützen oberhalb des Hafens verläuft. Nur noch eine einzige Grube ist in Betrieb. Die Steinkohle, die dort gefördert wird, soll zu einem Viertel für die Versorgung des Ortes gebraucht werden. Was die Hauptstadt von Spitzbergen zu der letzten norwegischen Ortschaft macht, die noch von Kohlenenergie lebt. Ein Kuriosum im wasserkraft- und ölreichen Norwegen.

Modisch wird auf dem Schiff, das angeblich mein Schiff ist, nichts geboten. Jeder läuft in den Sachen herum, die ihm gerade praktisch erscheinen. Das Gesamtbild wird bei den Frauen beherrscht von Quergestreiftem, bei den Männern von Karos. Dazu trägt man hauptsächlich Jeans und Turnschuhe aller Art. Doch gibt die miese Aufmachung keinen Grund zur Klage, ist doch ohnehin nichts an Schönheit zu sehen. Hier gilt nur Reife, meist sogar nur Überreife und rigoroses Sichaufrechterhalten, wenn nicht ein trotziges Anwackeln gegen das Sich-Überlebt-Haben. Natürlich betrifft das alles nur die mittleren und älteren Jahrgänge. Die Jungen und Junggebliebenen fallen nicht so ins Auge, weil sie entweder im Schwimmbecken sind oder an den Fitnessgeräten hängen oder sonst wo.

Bald nach der Abfahrt von Thromsø überholt uns die AIDAluna, die im Hafen neben uns gelegen hatte. Was wieder zu dem Vergleich einlädt, den wir schon mehrfach angestellt hatten: Was ist besser, AIDA oder Mein Schiff? Da gibt es Punkte hier und Punkte dort für die einzelnen Aspekte einer solchen Vergnügungsfahrt, also fürs Essen, für die Vorträge und Shows, die Nebenkosten, die Landausflüge, die Organisation und den Service bis hin zum Lärm. Insgesamt würde ich sagen: Es steht 5 : 3 für AIDA. Für viele meiner Mitreisenden scheint das Allerbeste an dieser Schiffsreise das täglich frischgebackene runde Krustenbrot zu sein, neben den vielen leckeren Eissorten. Was besonders auffällt, das ist der Unterschied in der äußeren Aufmachung der Schiffe. Darin ist AIDA der eindeutige Sieger. Sowohl die Namen der Schiffe als auch ihre Kussmundbemalung sind unschlagbar. Und TUI hat sich offenbar wenig Mühe gemacht, dagegen anzukommen. Die Bezeichnung Mein Schiff ist eine kindliche Ausdrucksweise, und die Zählung 1 – 6 ist peinlich simpel. Dann noch die Bemalung des Schiffs: Als hätte der oberste Chef selbst sie gestaltet. Natürlich in seiner altertümlichen Handschrift. Und alles, was ihm wichtig war, Wohlfühlen und Entspannung und Unterhaltung und so fort, schön gleichmäßig über den Schiffsrumpf verteilt. Da ein Wort hingekleckert und da eins. Alles so laienhaft hingestückelt wie selbstgestaltetes Briefpapier oder eine Eigenbau-Homepage. Und kein Mensch hatte es gewagt, dem Firmenpatriarchen zu widersprechen.

 

Die Knipser, das sind mindestens die Hälfte der Passagiere, knipsen sogar, wo mit Sicherheit nichts als Nebel und ein Irgendwas als Fliegenschiss aufs Bild kommt, weil nichts anderes da ist. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Smartphones ist überwältigend. Die Knipser in ihren Knipshaltungen aufzunehmen, das wäre reizvoll. Fotografische Spitzweg-Karikaturen. Zu schade, dass der Persönlichkeitsschutz im Weg steht.

Trondheim, die alte Königsstadt, das ist vor allem der Dom, der mit seinem spitzen grünen Turm und den grünen Dächern immer noch bemüht ist, das Stadtbild zu beherrschen. Mit recht, ist er doch Krönungsstätte und Grablege der norwegischen Könige. Dann steht man vor dieser imposanten Fassade, einer Heerschar von Königen und Bischöfen und anderen Größen gegenüber, die einen klein werden lassen, und geht unwillkürlich geduckt in den hohen Kirchenraum hinein. Plötzlich in einem allgemeinen Leichengrau verloren. Denn grau sind die gebündelten Säulen, grau ist der nur angedeutete Lettner vor dem beleuchteten Hauptaltar und dem in Düsternis gehaltenen Chorraum. Grau sind sogar die Flechtsitze all der aufgereihten Stühle. Und mir wird ganz grau in meinen Empfindungen. Dagegen kommen die wenigen und recht kleinen Fenster mit ihrer Buntverglasung nicht an. Bei ihnen ist alle künstlerische Bemühung vertan, weil man ein Opernglas brauchte, um die erzählten Geschichten zu entziffern. Gäbe es nicht beim Blick zurück zum Eingang die farbenfrohe große Rosette über den wie Flügel weit ausgebreiteten Armen der Orgel, man könnte trübselig werden. Diese Rosette, lese ich, ist von Frauen gestiftet worden. Ja, Frauen wissen einfach mehr über das Leben. 

Letzte Landstation: Ålesund. Nur eine Kleinstadt von etwa 40.000 Einwohnern, aber so einladend ausladend über etliche Inseln und Hügel ausgebreitet wie eine laszive Bikini-Schönheit im Liegestuhl. Beim ersten Blick vom Hafen aus eine moderne Stadt, in der ein Dutzend belanglose Kästen voller Büros miteinander an Scheußlichkeit konkurrieren. Dabei ist der Sieger dieses Negativ-Wettbewerbs schnell festgestellt: das Rathaus. Doch hinter diesem Abwehrwall tut sich dann ein schmuckes Jugendstilensemble auf. Etwas Einmaliges dort im hohen Norden. Und nur einer Katastrophe zu verdanken, wenn man das so sagen darf. Im Jahre 1904 ist fast die gesamte aus Holzhäusern bestehende Stadt Ålesund einem Feuer zum Opfer gefallen. Damals kam Hilfe für die obdachlose und allen Besitzes beraubte Bevölkerung von vielen Seiten. Doch am großzügigsten erwies sich der deutsche Kaiser Wilhelm II., ein begeisterter Freund Norwegens. Der Wiederaufbau der Stadt erfolgte dann gleich in Stein statt in Holz, um weitere Feuersbrünste zu vermeiden. Und da die hinzugezogenen Architekten damals vom Jugendstil beeindruckt waren, wurde aus Ålesund ein Jugendstilstädtchen. Kein Wunder, dass wir noch heute in der Stadt die Kaiser-Wilhelm-Straße (Keiser Wilhelmsgate) finden und mancherlei Hinweis auf den Kaiser, natürlich auch eine zu seinen Ehren aufgestellte Büste. Ein Kontrastprogramm zu der am Nordkap festgestellten negativen Erinnerungsarbeit.

 

 

Bei der Busfahrt hinauf auf den Hausberg Aksla, durch beste und teuerste Wohngegend, ein Haus so puppenstubenschön wirkend wie das andere, der zweite Hinweis auf das oft problematische norwegisch-deutsche Verhältnis. Die vielfach gewundene Straße ist im Zweiten Weltkrieg, als Deutschland Norwegen besetzt hatte, von der Deutschen Wehrmacht angelegt worden, mit Hilfe von polnischen und russischen Gefangenen. Sie bot den Zugang zu den Bunkeranlagen, die noch heute im üppigen Grün über der Stadt thronen, schauriger Kontrast zu dem schicken Ausflugslokal mit Sonnenterrasse.

Heute ist Norwegen eines der reichsten Länder der Welt. Neben den vielen Wasserfällen ist das dem Erdöl zu verdanken, nämlich der Ölförderung vor der Küste. Und weil das Land die Sache richtig angepackt und sich nicht den internationalen Erdölkonzernen ausgeliefert hat. Die heftig sprudelnden Gewinne fließen in einen Staatsfonds, der dafür sorgt, dass das gesamte Volk reich und abgesichert ist. Doch haben wir auf dieser langen Fahrt die Küste entlang lediglich vier Bohrinseln gesehen, und die nur von weitem. Sieht so aus, als ob die Touristen nicht mit der rauen Arbeitswelt konfrontiert werden sollten. Wäre ja auch berechtigt. Ist das Gesicht der Arbeit doch erst schön pittoresk und fotogen, wenn sie längst in Vergessenheit geraten ist. Und es wird noch dauern, bis die ölverschmierten muskulösen Bohrarbeiter auf uns so attraktiv wirken wie die unendlich geduldigen Netzflicker von anno dazumal. 

 

Dieses Schiff der unmäßigen Dimensionen, fast 300 Meter lang, 99.500 Bruttoregistertonnen, ein gewaltiger Kabinenstapel, 13 Etagen hoch, in dem 2.500 Passagiere aus Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1.000 Arbeitskräften aus insgesamt 43 Ländern verwöhnt werden, kein Mensch kommt auf die Idee, dieses Monstrum einfach Dampfer zu nennen. Dabei stößt es ständig aus den sechs gebündelten Kaminen in gewaltigen Ballen hellen Dampf aus. Doch es hinterlässt eine viel attraktivere, breite Spur, die ich aus der Café Lounge im Heck betrachte. Dort, in bemüht eleganter Atmosphäre bei einer heißen Schokolade und sanfter Klaviermusik, schaue ich der aufschäumenden Bewegung zu, die wir hinter uns lassen. Eine breite Fünffachspur von dem unbändigen Quirlen der beiden Schiffsschrauben, nicht abreißend wie schöner Rede endloser Schwall. Erst in weiter Ferne, dicht vor der Horizontlinie, verliert sich unsere Spur im Nichts, seicht auslaufend in diese blasse Helle, die sich vom schwärzlichen Meer daneben und von der grauen Zudecke des Himmels absetzt. Meine Spur des Nichtstuns, die Alternative von allem Imponierenden. Vielleicht deshalb so reizvoll für die Augen?  

Zugegeben, die Kreuzfahrerei ist die Extremform des sinnlosen Herumreisens. Im schwimmenden Schlaraffenland unterwegs nach Irgendwo, das einen großen Namen trägt, den man immer nennen kann, wenn vom Reisen und Erleben die Rede ist. Tatsächlich fährt das Schiff ja auch zu dem Ort mit dem großen Namen hin. Und man kann aussteigen und sich den Ort ansehen. Um festzustellen, dass es sich dort um einen Alltagsort handelt, dem Ort ähnlich, den man als seine Heimat bezeichnet und erlebnishungrig verlassen hat. Was nur den Entschluss zum Reisen bestätigt. Im Grunde genommen ist einem der ferne Zielpunkt völlig egal. Nur ein Glück, dass man dort nicht leben muss.

Bei der klassischen Vorstellung vom Schlaraffenland spielte das Reisen nur die dienende Rolle, dass man sich bis in dieses Wunschland durchkämpfen musste, indem man sich durch den schützenden Wall von Hirsebrei fraß. Dann war Schluss mit dem Unterwegssein. Denn danach kam als Belohnung, dass einem gebratene Tauben in den Mund flogen, dass man sich am Weinbrunnen berauschen, am Zaun aus Würsten überfressen und unter dem Baum voll wunderbarer Früchte einmal richtig ausschlafen konnte. Das Reisen selbst als einen der Genüsse des Schlaraffenlandes zu sehen, soweit hatte die Vorstellung nicht gereicht. Das hat erst die Neuzeit entdeckt. War das Reisen in allen früheren Jahrhunderten doch immer bloß Notwendigkeit. Reisende waren zu bedauern. Denn reisen mussten Kaufleute und Wissenschaftler und Forscher, auch Soldaten und Pilger und Studenten sowie Handwerksburschen, daneben Kaiser und Könige, aber auch Vertriebene und Gefangene. Kaum jemand reiste ohne Notwendigkeit herum. Heute sind die langen Anfahrten oder Flüge hin zu dem Liegeplatz des gebuchten Schiffes und dann die endlos erscheinenden Eincheckzeiten der Kampf mit dem Hirsebrei, so unvermeidlich wie eh und je.  

 

Die Passagiere bilden ständig wechselnde Gruppen von gleichgeschalteten Menschen, die kaum Interesse aneinander zeigen, weil sie nur ihr eigenes Interesse ausleben wollen, das sich auf Essen und Trinken reimt oder auf Sonne, auf Musik oder Swimmingpool. Dass sich dieses eigene Interesse zufällig mit dem von vielen anderen deckt, wird nicht als beglückend empfunden, eher als lästig oder bedauerlich. So bekommt der Begriff Tourist für die Touristen einen schrillen Klang. In der Masse merkt der Tourist, dass er allein ist. Und weil er nichts zu tun hat, steht er ständig vor der Frage, was er als nächstes machen soll. Dass er sein Ich in jedem anderen gespiegelt sieht, lässt keine Sympathie für die anderen entstehen. Oft gilt eher das Gegenteil, das jedoch durch gute Erziehung unterdrückt wird.

In meinem 2017 veröffentlichten Buch „Karibik ohne Kannibalen“ über zwei Karibik-Kreuzfahrten im Abstand von 45 Jahren, die ich gemacht habe, kam mir der Hinweis auf Sebastian Brants „Narrenschiff“ so passend vor wie die Verbindung mit dem Urtraum vom Schlaraffenland. Doch nach etlichen weiteren Kreuzfahrten und mit der neuesten Reiseerfahrung als einer von zweieinhalbtausend Kreuzfahrt-Genüsslingen auf der Reise ans Ende der Welt, muss ich die herbe Kritik ein wenig abmildern. In einer Zeit, in der für die halbwegs aufgeklärten Menschen das ganze Leben ohne Sinn ist und nur immer noch komplizierter wird, muss ich Verständnis dafür haben, dass meine Zeitgenossen in diesen immer toller ausgestatteten schwimmenden Schlaraffenländern ihre Wunschheimat sehen.        

 

 

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