Kleider machen Leute

(Kleider machen Leute, D 1940, 99 Min., R.: Helmut Käutner, nach Motiven der gleichnamigen Novelle von Gottfried Keller)

Der romantisch verträumte Schneidergeselle Wenzel in Seldwyla stellt sich vor, selbst einmal einer der hohen Herren zu sein, für die er feine Fräcke näht. Und schon wird unter seinen Händen aus dem fast fertigen neuen Frack für den korpulenten Bürgermeister ein feines Stück, das ihm selbst wie angegossen sitzt, das für den tobenden Bürgermeister aber nur ein Leibchen ist. Dafür wird er von seinem Meister aus dem Haus gejagt, den Frack aber darf er anbehalten. Dieses vornehme Utensil öffnet ihm schon bald den Schlag einer noch vornehmeren Kutsche, die den russischen Grafen Stroganoff abholen soll. Und im Nachbarstädtchen Goldach hält man den so nobel vorfahrenden Besucher prompt für den Grafen und überschüttet ihn mit Freundlichkeit. Seine schüchterne Zurückweisung der Ehre und sein Schweigen sind für die Goldacher nur Beweise seiner aristokratischen Herkunft. Selbst als der echte Graf Stroganoff eintrifft, schafft der Schneidergeselle weder eine schnelle Aufklärung noch die Flucht. Was den Grafen so amüsiert, daß er das Spiel weitertreibt, sich selbst sogar als den Diener des angeblichen Grafen ausgibt. Der fügt sich immer williger in seine Rolle, weil er die heftigen Gefühle der Amtstochter Nettchen genießt. Die ist es schließlich auch, die sich als die Größte erweist, als die Leute aus Seldwyla in einem gehässigen Mummenschanz den falschen Grafen entlarven und zur Verzweiflung bringen.

Eine hübsche Komödie, die stellenweise großartige und sehr modern wirkende Filmkunst bringt und mit Heinz Rühmann als Wenzel, der die von der Schule her strapazierte Novelle wieder goutierbar macht. Für Gottfried Keller (1819-1890) waren die im Jahre 1874 erschienenen Erzählungen unter dem Sammeltitel „Die Leute von Seldwyla“ ein sprachartistisches Spiel mit Schein und Sein, mit Täuschung, Romantisierung und harter Realität. In heute modischer Diktion: Eine Problematisierung des Begriffs der Identität. Jedenfalls ein Dekuvrieren von Vorurteilen positiver wie negativer Art, ein Lachen über die albern kleinbürgerliche Rivalität zwischen Nachbarstädten und ein Hoch auf die Herzensgüte, die über die großartigste äußere Aufmachung triumphiert.

Man fragt sich, warum dieses literarische Kabinettstückchen ein Kinofilm geworden ist, und das ausgerechnet im Jahre 1940. Die deutschen Heere hatten halb Europa erobert. War in dem Moment wichtig sich klarzumachen, daß Kleider Leute machen? In diesem Jahr 1940 wurde auch der Propagandafilm „Jud Süß“ gedreht, in den USA gleichzeitig die Hitler-Persiflage „Der Diktator“. Beides aus der Zeit heraus verständlich. Aber „Kleider machen Leute“? Das große Jahr des Unterhaltungsfilms in der Nazizeit war 1934 gewesen. Als der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wurde die Produktion stark eingeschränkt. Anfang 1942 kam dann die ausdrückliche Weisung von Propagandaminister Joseph Goebbels, daß neben der Unterhaltung Wert gelegt werden müsse auf politische und militärische Inhalte. Aber 1940 „Kleider machen Leute“ als ein prächtiger Ausstattungsfilm mit beliebten Akteuren vielleicht als bloße Ablenkung von der Tatsache, daß schon im ersten Kriegsjahr viele deutsche Familien ihren Vater oder Sohn verloren hatten? Schon möglich. Möglich aber auch, daß über den von Gottfried Keller festgelegten Titel hinweggesehen werden sollte und statt dessen das andere Sprichwort vorgeführt wurde, das genausogut paßt und von jedem Kinobesucher mitverstanden werden sollte: Die Welt will betrogen werden. Dann hätte Helmut Käutner mit diesem Film eine mutige politische Aussage gemacht.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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