Julian Barnes: Der Zitronentisch

Antizipierte Altersweisheit

(Julian Barnes: Der Zitronentisch, Erzählungen, aus dem Englischen von Gertraude Krueger, btb-Verlag, München 2007, Taschenbuch 255 Seiten, € 8.-)

Mal geht es um die Angst vor dem Friseur, mal um die Liebe eines Holzhändlers, mal ist ein ehemaliger Soldat auf Abwegen, mal kämpfen mißgünstige Frauen miteinander. So geht das in immer neuen Überraschungen  weiter bis zum Ausbruch eines 81-Jährigen aus der Ehehölle und der Liebe eines Komponisten zur Stille. Eine bunte Mischung.

Eine derartige Sammlung von Erzählungen verlangt nach einem Titel, der als Rahmen dienen kann. Das ist immer eine Verlegenheitslösung, falls nicht einfach der Titel einer der Geschichten genommen wird. Hier ist das Rahmenerfordernis deutlich als simpel abgetan: Der Zitronentisch als Titel, und das letzte Wort des Buches heißt Zitrone. Das klingt wie ein: Ätsch! Und es paßt zu dem lapidar ironischen Stil des Londoner Autors, der es geschafft hat, mit seinen Büchern britischen Humor in literarischer Form auf dem deutschen Markt durchzusetzen. Er hätte für diese elf Kurzgeschichten auch den umfassenden Begriff Altwerden verwenden können. Exakt darum geht es elfmal. Aber das ist ein negativ besetzter Begriff, den man zu vermeiden sucht. Also lieber von Zitronen sprechen. Und doch bleibt: Das Thema selbst ist negativ. Daran führt nichts vorbei. Denn was bietet uns der Autor? Die Tristesse des Altwerdens, des unvermeidlichen Verblühens und Verblödens. Trotzdem ist dieses Buch ein einziger Lesegenuß. Da fragt man sich: Wieso?

Julian Barnes tritt mit einem immer wieder anderen Ich auf, das so intensiv geschildert wird, dass der Leser nicht nur ergriffen wird. Er macht überm Lesen beim Sprung von einer Erzählung zur nächsten eine Metamorphose durch, eine immer neue. Da zeigt sich die Geschichtensammlung dem Roman überlegen, weil sie freier ist im Perspektivwechsel. Keinerlei Hemmungen, gegen gängige Schreibkodizes zu verstoßen, im Gegenteil. Hier hat der Wechsel von einer Identität zur nächsten den Reiz, wie wir ihn gern im Theaterspiel und bei jeder anderen Art von Mummenschanz ausleben. Das läßt einen sofort zur nächsten Erzählung übergehen.

Dabei kann der Autor es sich sogar leisten, auf die immer gleiche Albernheit des Spannungsbogens zu verzichten, der den Leser von der ersten Seite des Buches bis zur letzten Seite schleppen muß. Die elf Erzählungen sind voneinander unabhängig, sind auch nicht künstlich auf einen alles überdeckenden Gesichtspunkt hin getrimmt, der uns zum Finale hin gieren läßt. Nicht einmal die einzelne Geschichte hat es nötig, mit diesem Allerweltstrick zu fesseln. Wenn das nicht schon eine Aussage ist: Unser Ende ist kein Clou, kein Schlußeffekt, kein großes Finale, keine Apotheose.

Und trotzdem liest man weiter in diesem Buch, bohrt sich hinein in eine Geschichte nach der anderen. Weil man mitkriegen will, wie andere Menschen die Schlußrunde schaffen, und weil man darauf vertraut, dass der Autor einem etwas zu sagen hat, das über die reine Handlung hinausgeht. Die einzelne Erzählung selbst wird unwichtig. So wird einem diese Erzählungssammlung zu einem alternativen Erzählwerk. Und am Schluß stellt man fest, dass man sich mit dieser Lektüre keine Zitronen eingehandelt hat, sondern antizipierte Altersweisheit. Julian Barnes sei Dank!

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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