Jenseits

(D 2001, 105 Min. Regie: Max Färberböck)

Ein dunkelnasser Morgen der Hast, da wie dort gezeigt, impft den Zuschauer mit Beängstigung. Und prompt passiert das unbestimmt Erwartete. Ein junger Staatsanwalt und Familienvater, in seinem Wagen hinter einem schweren Laster auf dem Weg zum Gericht, überfährt den kleinen Nicolaj, den Sohn einer russischen Aussiedlerin. Der Junge hatte es eilig, zu seinem Schulkonzert zu kommen, und scherte plötzlich mit seinem Fahrrad zwischen dem Laster und dem Wagen des Staatsanwalts ein. Keine Chance für ein Ausweichen oder ein Bremsmanöver. Der kleine Junge fliegt durch die Luft und bleibt tot neben der Straße liegen. Der Staatsanwalt, obwohl offensichtlich schuldlos, begeht unter Schock Unfallflucht.

Zwar tut er weiterhin seinen Dienst, klagt an im Namen des Volkes, aber er ist ein gehemmter, total veränderter Mann. Was seiner Frau nicht viel ausmacht, weil sie sich sowieso zu seinem Kollegen Heinrich hingezogen fühlt, der wie ein väterlicher Freund zu ihr ist. Die Fahndung nach dem Unfallfahrer verläuft zunächst im Sande. So weit so üblich. Doch als der Staatsanwalt hört, daß die Mutter des verunglückten Jungen Selbstmordabsichten habe, bekommt die Story eine unerwartete Wendung und einen völlig neuen Charakter. Denn der Staatsanwalt nimmt ohne sich zu erkennen zu geben einen freundschaftlichen Kontakt mit der Aussiedlerin auf. Er hat das Bedürfnis, gut zu ihr zu sein. Was nicht ausgesprochen wird, aber sich jedem Juristen aufdrängt, das ist der Begriff der Naturalrestitution, d.h. Schadensersatz durch Herstellung eines Zustands, der dem vor der Schädigung gleichwertig ist.

Und so kommt, was kommen mußte. Die Aussiedlerin wird von dem Staatsanwalt geschwängert. Gleichzeitig wird sein Falschverhalten bei dem Unfall durch das Zusammenwirken der Polizei mit seinem Kollegen und Konkurrenten sowie seiner Frau aufgedeckt. Was die Aussiedlerin ausrasten läßt. Sie sticht ihn mit einer abgebrochenen Flasche nieder.

Der Rest ist die große Abrechnung wie auf der Opernbühne im letzten Akt. Hier spielt sie sich im Gerichtssaal ab. Die Aussiedlerin wird wegen versuchter Tötung ins Gefängnis geschickt, der Staatsanwalt wird in Sachen Tod des kleinen Nicolaj freigesprochen, aber wegen Unfallflucht zu einer Bewährungsstrafe von einigen Monaten verurteilt. Zu weniger als einem Jahr, so daß er nicht deswegen aus dem Staatsdienst entlassen werden kann.  Das ist ein Ergebnis, das für schlichte Bildzeitungsgemüter skandalös sein mag, aber nicht interpretiert wird. Das ist dem Film mit recht nicht wichtig genug.

Statt dessen erklärt der Staatsanwalt in einem beeindruckenden Schlußwort, wie er den Zusammenbruch seiner juristischen Überzeugungen innerhalb einer Sekunde erlebt hat. Und mit diesem Schlußwort geht der Film sogar noch über die Qualität einer klassischen Tragödie hinaus. Denn er läßt die Sache nicht auf der Feststellung beruhen, daß es sich um Moira handelt, um das Schicksal, dem man nicht entfliehen kann. Der Film thematisiert das kommende Kernproblem der Strafrechtspflege: Können wir tatsächlich immer noch davon ausgehen, daß wir stets aufgrund von freien Willensentscheidungen handeln und deshalb strafrechtlich verantwortlich sind? Noch ist der Einbruch der Biochemie in den Gerichtssaal auf den gelegentlichen Auftritt eines Gutachters beschränkt. Doch ist zu erwarten, daß man sich in Zukunft noch oft an den Film „Jenseits” erinnern wird, und das nicht in erster Linie wegen der geschickten Regie und liebevollen Kameraführung oder der guten schauspielerischen Leistung . Das Progressive dieses Films liegt in seinem Drehbuch. Da war der Filmer Max Färberböck offenbar gut beraten, von einem problemorientierten Juristen.

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