Jenny Erpenbeck: Heimsuchung

Deutschland in feinstem Deutsch

(Jenny Erpenbeck: Heimsuchung, Roman, Eichborn-Verlag, Frankfurt/Main 2008, gebunden 192 Seiten, € 17,95)

Es gibt Belletristik, die für Kritiker geschrieben wird, und solche, die für Leser bestimmt ist. Autoren, die sich, wenn sie ein Buch zu schreiben beginnen, eindeutig für die eine oder die andere Zielgruppe entschieden haben, können große Erfolge verbuchen. Wer bei seinem Schreiben beiden Gruppen etwas bietet, hat jedoch kaum Erfolg, selbst wenn er die bessere Literatur liefert. Die goldenen Zeiten Carl Zuckmayers sind vorbei. Das moderne Marketing schätzt kein verständnisvolles Blinzeln mehr.

Jenny Erpenbeck, die Autorin aus Ostberlin, hat sich entschieden: Sie schreibt für die Kritik, wenn sie auf eine höchst feinfühlige Weise ihre Kindheit in dem Reethaus am Scharmützelsee beschreibt, sehr intim, aber so, dass sie sich völlig zurücknimmt. Nur konsequent, dass Heimsuchung ein Roman ohne Spannungsbogen ist, auch ohne eine Heldin oder einen Helden. Die Personen, oft ohne Namen, tauchen auf und tauchen ab, sind nur noch verwehte Spuren auf einem Schauplatz, der zum eigentlichen Protagonisten wird. Das Haus am See, die Immobilie als das nicht nur räumlich sondern auch zeitlich Beständige, so sehr es sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Und der Gärtner, dem immer mal wieder ein Scharnier-Kapitelchen gewidmet wird, ist weniger ein Individuum als vielmehr ein Typ und als solcher beinahe nur ein Accessoire des Gartens, in dem er die immer gleichen Handgriffe zu machen hat, für welche der wechselnden Herrschaften auch immer.

Das ist wirklich kunstvoll gemacht. Da kann man sich für die unaufdringliche Sprachartistik der Autorin begeistern, für die poetisch verkürzte Geschichtsdarstellung oder Situationsschilderung, kann davon schwärmen, wie sie mit ihren Satzkonstruktionen über das Gewohnte und Genormte hinausfliegt. Wie sie, was einmal bei Joyce als der Bewusstseinsstrom sensationell war, jetzt zu schlicht dahinfließenden Aussagesätzen werden lässt. Wie sie das Stilmittel der Wiederholung von Formulierungen einsetzt, die völlig unterschiedliche Situationen illustrieren, holzschnittartig, so dass es einem ein homerisches Lächeln des stillen Einverständnisses abringt.

Zunächst diese Kühle der geophysikalischen Einordnung des Schauplatzes, sie erinnert an den ebenso distanzierten Auftakt von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, dann die kindliche Unbekümmertheit. Aber daneben gibt es auch Szenen, die einen Anne Franks Isoliertheit nacherleben lassen, und andere, die einen mit Rilkes Cornett verbrüdern. Erschütternd, wie das Denken eines alten Menschen sich zu wenigen unzusammenhängenden Formulierungen aus dem Erinnerungsfundus zurückzieht – beinahe ein innerer Schrumpfkopf. Und zuletzt dann noch das juristische Vokabular, das aus Akten tropft und so was wie ein Nonsens-Gedicht gebiert. Das ist die Hohe Schule der Schreibkunst.

Das Buch stellt eine deutsche Geschichtsstunde dar, die jedem zu empfehlen ist, der noch einmal unsere jüngste Vergangenheit erleben will, vorgeführt am Werden und Vergehen eines Wohnhauses. Eigentlich nichts Besonderes, und doch ein ganz ungewöhnlicher Genuss, weil in unseren Zeiten des Englisch-Kollers dargeboten in feinstem Deutsch.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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