Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball

Was heißt hier Freundschaft?

(Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball. Erzählung, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009, 116 Seiten, Leineneinband, ISBN 978-3-8031-1264-4)

Die merkwürdige Geschichte einer Freundschaft, die zwei Jungen in der französischen Provinz von 1933 bis 1996 verband. Laurent und NO, beide aus großbürgerlichen Verhältnissen stammend, galten ihren Angehörigen und Bekannten schon vor der Schulzeit als ein unzertrennliches Paar. In all ihren Spielen waren sie immer ernsthafte Wettbewerber, wobei Laurent der notarmäßig korrekte Buchführer war, während NO gerne schon einmal schummelte. Laurent als der bessere im Aufsatzschreiben, NO als der bessere im Rechnen, so schafften sie, sich wechselseitig unterstützend, die Anforderungen der Schule.

Die Besetzung Frankreichs durch die Deutsche Wehrmacht brachte ihre Spiele durcheinander, obwohl beide Jungen auf dem Golfplatz der Stadt als Balljungen tätig wurden und darin wetteiferten, verlorene Golfbälle zu finden und daheim zu horten. Der dramatische Knackpunkt der Geschichte ist: Als Laurents Vater vor einem heimlichen  Résistance-Treffen, das bereits an die deutschen Besatzer verraten war, gewarnt werden musste, konnte Laurent das nicht selbst tun. Er erbat also diesen dringend nötigen Freundschaftsdienst von NO. Dafür präsentierte der ihm eine Gegenforderung, die scheinbar unerfüllbar war.

Laurent aber ging in seiner ernsthaft korrekten Art auch diese Aufgabe an. Sie sollte sein gesamtes Leben umgestalten, ihm nicht erlauben, Karriere zu machen und ein bürgerliches Dasein zu führen, ja, ihn schließlich sogar als Verrückten abstempeln. Doch am Schluss kommt heraus, dass er von seinem ehemaligen Freund NO, der bedeutend, reich und glücklich wurde, auf grausame Weise hereingelegt worden war.

Eine Erzählung, so empörend wie unglaubhaft. Deshalb nur als Parabel zu verstehen und zu akzeptieren. Dass dieses kleine Stück mehr nicht sein soll, macht der Autor mit dem besonderen Erzählduktus deutlich: Wie mit Kreide auf die Schultafel geschriebene, kalt servierte kurze Hauptsätze statt einer stimmungsvoll ausgeschmückten Schilderung. Der besondere Charakter eines solchen Lehrstücks lässt auch über die beiden groben Fehler hinwegsehen, die dem Büchlein anhaften. Zum einen ist der Titel der 1997 in Paris erschienenen Originalausgabe „La dernière balle perdue“ falsch übersetzt. Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass sie heißen müsste: „Der letzte verlorene Ball“. Zum anderen ist dem Autor ein konstruktives Missgeschick unterlaufen, als er schrieb, dass Laurent seinen Freund NO eines Tages nicht mehr wissen ließ, wie viele verlorene Bälle er schon gesammelt hatte, weil er sich dazu ja nicht verpflichtet habe, dass am Schluss NO dennoch genau wusste, dass dem Freund die letzten beiden Bälle fehlten.

Über diese beiden Fehler muss und kann man hinwegsehen, wenn man sich fragt, was die eigentliche Qualität dieser Geschichte ist. Da ist einmal die Erkenntnis unübersehbar, dass auch die Kindheit aus Konkurrenzverhältnissen besteht, mit all ihren Reizen und auch all ihren Härten. Was nur spielerischer Wettbewerb zu sein scheint, das ist auch immer das Sich-Behaupten-Müssen und das Übertrumpfen-Wollen. Damit wird der übliche Kommentar der Erwachsenen von wegen unzertrennliche Freunde als dummes Gerede weggewischt. Außerdem wird ein grundsätzlicher Zweifel an dem Euphemismus deutlich, den wir mit Sozialisation des Kindes umschreiben und gern als ein erforderliches Abschleifen unschöner Ecken und Kanten sehen möchten.

Der Autor Jacques Roubaud, der Mitte sechzig war, als er diese Erzählung zur Veröffentlichung gab, wusste besser, was Menschsein und was Sozialisation bedeutet. Und es ist ihm auch hoch anzurechnen, dass er, um die Gemeinheit des Menschen zu zeigen, nicht einfach auf die Zeit, in der die Geschichte spielt, also auf die angebliche Erbfeindschaft von Franzosen und Deutschen, abgestellt hat, sondern in seiner Gesellschaft geblieben ist. Und das in einer politischen Situation, die nur mit den Ausdrücken brutaler Überfall und heldenhafter Widerstand gezeichnet wurde. Die Überlegenheit des Autors in Sachen Mensch macht diese kleine Erzählung zu einem Stück großer Literatur.

So die Bewertung, wenn man diese Geschichte als ernsthafte literarische Arbeit sieht. Ganz anders ist sie zu bewerten, wenn man berücksichtigt, das der Autor einer der maßgeblichen Köpfe der vor fünfzig Jahren in Frankreich gegründeten literarischen Gruppe Oulipo ist, die in Paris monatliche öffentliche Lesungen veranstaltet. Dieser verschworenen Clique von Autoren, die in der Nachfolge von Dada gewisse literarische Verschrobenheiten pflegen, geht es darum, mit der sprachlichen Form zu spielen, unterhaltsam und auch mit Ulk und Betrug, um dem Geist auf neue Weise das Gehen beizubringen. Dabei kann natürlich nicht mehr von Fehlern die Rede sein, sondern nur noch von Erfolg oder Misserfolg. Der Rezensent, der das schmale Buch zuklappt, sagt: Ein voller Erfolg.
(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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