Irland überlebt (2013)

Ich sitze im irischen Cork im Hotel und schüttel den Kopf über das Wetter, das nicht weiß, was es will, und in viel zu schnellem Wechsel Wasser schüttet und mit Sonne blendet. Ich schüttel und schüttel den Kopf, bis ich selbst nicht mehr weiß, was ich überhaupt hier will. – Ach so, ja, Irland erleben, wie Irland nun mal so ist.

In dem allgemeinen Bedürfnis, etwas zu erleben, schäumt es in der Corker Kneipe mit dem merkwürdigen Namen „The Cork Arms“ – schon am dritten Abend meine Stammkneipe – höher auf als im Bierglas. Bei dem und dem und der und der. Reden und Lachen in mehr als klinischer Dosierung und in effektvollem Wechsel. In jedem Hinterkopf die Gewissheit, damit etwas für die Zeit zu tun, die einen nicht mehr aus dem Haus lässt oder sogar nicht mehr aus dem Bett. Alle beim Sammeln der Erinnerungen, die ihnen demnächst das Altsein erleichtern sollen. So sicher sind sie, das gepökelte Erlebnis später genießen zu können, dass ich mir versagen muss, etwas dagegen zu sagen.

Auf dem Tresen kuscheln sich sechs Sammelbüchsen aneinander. Die aufgeklebten Bildchen und Texte verraten mir: Eine sammelt für ein bestimmtes Krankenhaus, eine für ein Esel-Schutzgebiet, eine für die Irische Krebs-Gesellschaft, eine für die Kirche, eine für Autisten, eine für kranke Kinder. In mir sammelt sich eine stille Bewunderung für die Gutherzigkeit der Iren, obwohl ich auch die Ketten gesehen habe, mit denen Büchse für Büchse an den Tresen gebunden ist.

Ein Rentner klagt mir sein Leid, dass er wegen der Wirtschaftskrise jetzt schmerzhafte Abstriche hinnehmen muss bei der bisher kostenlosen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr und beim kostenlosen Telefonieren. Mein Hinweis darauf, dass es solche Vorteile für Rentner bei uns noch nie gegeben habe, überhört er.

Am Abend in der Kneipe kann es passieren, dass plötzlich einer den Mund aufmacht und lauthals los singt. Worauf niemand achtet, was aber auch keinen der anderen Gäste stört. Nur an den Wochenenden sind die unzähligen Pubs von Cork sardinenbüchsenvoll. Man steht dicht an dicht, ein Bierglas in der Hand und brüllt unter der discolauten Musikdusche seinem Nachbarn etwas zu, was der nicht verstehen muss.

Dazu gibt mir eine in Cork arbeitende deutsche Computerfrau die Erklärung: In Deutschland gilt, wer regelmäßig in der Kneipe gesehen wird, sehr schnell als außerhalb der Gesellschaft stehend, hier in Irland eher, wer nicht regelmäßig in der Bar gesehen wird.

In Irland ist alles viel teurer als daheim. Bis auf das, was im Überangebot vorhanden ist und ich nicht benötige: Immobilien und Friseure. Überall stoße ich auf leerstehende Häuser, Wohnungen und Geschäfte, und beinahe in jedem sechsten Haus ist ein Barbershop.

So viele Kirchtürme überragen Cork. Doch wenn ich zu einer Kirche gehe, kann ich in den engen Gassen nicht feststellen, welcher Turm dazu gehört. Dafür lese ich im Schaukasten: Peter- und Pauls-Kirche. Ein Riesenraum, in dem der Blickfang die großen bunten Fenster im Chorraum sind. Da übersieht man glatt den Altar und den Tabernakel und das Ewige Licht.  Im Übrigen vier blitzknipsende junge Frauen und eine in der Kirchenbank offenbar im Gebet versunkene ältere Frau. Dann bleiben meine Blicke an den Engeln hängen, die an den Außenseiten der Bänke stehen, sieben an der Zahl, tiefbraun, wohl holzgeschnitzt und beinahe lebensgroß. Aber was heißt bei Engeln schon lebensgroß? Sie sind so groß und so lebendig, wie der Glaube, der dahinter steht. Hier in Irland haben die Engel ihr Dorado, weil die Menschen immer klein gehalten wurden und ihr Glaube entsprechend groß ist. Die Iren glauben ja auch noch an Geister und Elfen und dieses ganze Unterweltsvölkchen, so hörte ich aus natürlich unsicherer Quelle.

Zwar ist St. Patrick der Nationalheilige der Iren, aber was ich beim Herumlaufen und Herumfahren an verehrungssüchtigen Statuen sehe, das sind fast immer Mariendarstellungen. Recht haben sie, die ewig geknechteten und hungrigen Iren, sich der Mutter in die Arme zu werfen statt irgendwelchen Märtyrern, wenn die auch noch heldenhafter gelitten haben als sie selbst.

Momentan wird in der Presse diskutiert, ob der Plan des Justizministers für den Ausbau des Corker Gefängnisses eine gute oder eine repressive Maßnahme darstellt. Der Minister will das Gefängnis auf 310 Plätze erweitern, wobei die Zellen jeweils Toilette und Dusche haben. Normalerweise soll in jeder Zelle nur ein Häftling untergebracht werden, doch sollten die Zellen so gebaut sein, dass sie unter besonderen Umständen, die zur Überfüllung des Gefängnisses führen, zur Doppelbelegung geeignet sind. – Immer gibt es jenseits des Lebens, das man als Besucher lebt und genießt, noch das eine oder andere nicht so genüssliche Leben.

Der totale Service. Wenn ich aus meinem Hotel auf die Straße trete, stehe ich einem auffälligen Doppelhaus gegenüber. Die eine Hälfte, dunkelblau gestrichen, trägt riesengroß die Werbung: Live Music. Kaum weniger groß die Bezeichnung an der anderen Hälfte, die hell gestrichen ist: Funeral Home.

Ob am Morgen im Frühstücksraum oder am Abend in der Kneipe, was läuft da? Das Fernsehen. Und bei jedem unvermeidlichen Blick auf den Bildschirm, was läuft da? Da laufen die Pferdchen. Es ist zum Davonlaufen. Nur im Vertrauen lässt man mich wissen, was in Irland in Wirklichkeit so läuft: Viel zu hohe Arbeitslosigkeit und ein irrwitziger Drogenkonsum.

Die St. Anne’s Church im Corker Stadtteil Shandon nennt man die Lügnerin. Nicht weil sie statt des Hahns einen Fisch auf der Kirchturmspitze trägt, sondern weil ihre Uhr an den verschiedenen Seiten des Turms unterschiedliche Uhrzeiten behauptet. Dafür sagt gleich nebenan das einzigartige Buttermuseum einmal die Wahrheit über ein Grundnahrungsmittel. Und das Shandon-Volksfest zeigt, mit was für einfachen Mitteln sich die Leute in diesem Stadtteil zu vergnügen wissen.

Ausgerechnet in Irland, wo IT-Fachleute aus aller Welt zusammenhocken und das große Internet-Geschäft vorantreiben, passiert es einem alle paar Augenblicke, dass der Internetzugang abbricht, wogegen man nichts anderes tun kann, als alles ausmachen, eine Weile warten und dann die Sitzung von vorne beginnen. Ein zeitraubendes Glücksspiel. Da fragt man sich: Hinter welcher Wolke versteckt liegt Irland eigentlich?

In der Liberty Street sah ich eine Kneipe, über deren Eingang rechts und links deutsche Flaggen im irischen Dauerwind flatterten. Das wehte mich hinein und an die lange Theke. Doch auf meine Frage, was die deutschen Flaggen zu bedeuten hätten, bekam ich keine Begründung zu hören. Nur Achselzucken. Es sprach auch niemand Deutsch. Das deutsche Element beschränkte sich auf eine Flasche Jägermeister, die ich in dem umfangreichen Flaschenarsenal hinter dem Tresen entdeckte, und in einem der zwölf Zapfhähne, der die Aufschrift trug: Paulaner Hefe-Weißbier.

Die Iren haben ihre eigene Art, die Autoindustrie, die sie nicht haben, zu fördern. Jedes Autokennzeichen trägt am Anfang die gekürzte Jahreszahl der Zulassung. Wer mit einem Auto 00 herumfährt, ist also stets unter Druck. Er wird sich bald einen neuen Wagen anschaffen müssen. Zumindest wäre das in Deutschland so. In diesem Jahr ist das diffizil, weil man es nicht ertragen kann, die 13 am Anfang der Autonummer zu zeigen. Die Iren sind halt stark im Glauben, auch im Aberglauben. Deshalb wird der 13 eine 1 angehängt, falls die Anschaffung ins erste Halbjahr fällt, eine 2 fürs zweite Halbjahr.

In Irland unterwegs irritiert mich, dass ich nie weiß, ob die Verständigungsschwierigkeiten mit den Iren daran liegen, dass ich nicht gut genug Englisch kann, oder daran, dass meinem Gegenüber das Englisch der Königin nicht gut genug ist. Da wiederholt einer im Gespräch immer wieder mit großer Gestik das Wort: Saschisch, saschisch, saschisch. Und ich steh da wie ein Idiot und verstehe nichts. Bis ich ihn bitte, das Wort auf einen Zettel zu schreiben. Dann lese ich: Sausage. Und ich sage: Yes, sossitsch. Und frage ihn: Können Sie denn nicht Englisch mit mir sprechen?

Bei der Fahrt über Land notiert: Alles, was hier Baum oder Strauch ist, plustert sich derart reifrockig auf, dass die Menschen dazwischen sich der behäbig auftretenden Dickpflanzen kaum noch zu erwehren wissen. Kein Wunder bei dem Regen-Sonne-Wind-Regen-Sonne-Wind-Wetter. Bei einem Freund, der auf dem Land lebt, sah ich im Schuppen neben der Motorsäge ein halbes Dutzend Handsägen und diverse Heckenscheren und acht Gartenscheren.

Ein Abstecher ins Biedermeier, diesmal irisch statt deutsch. Gleich südlich von Cahir, im letzten Zipfel der Grafschaft Tipperary, stößt man mitten im Wald am Fluss Suir auf das Swiss Cottage. Ein behäbig hingestrecktes, zweigeschossiges Landhaus in wollüstigen Formen, unter einem Reetdach wie unter einer dicken Kuscheldecke versteckt. Ein Jagdhaus, das sich Richard Butler, der 12. Lord Cahir, Anfang des 19. Jahrhunderts hat erbauen lassen. Es sollte ein Stück Natur in der Natur sein, weshalb fast nur natürliche Baumaterialien verwendet wurden. Und es sollte neben der beliebten Jagd und Fischerei dem modisch gewordenen Vergnügen dienen, sich hin und wieder in bäuerlicher Verkleidung dem einfachen Leben hinzugeben. Ein Urlaub vom höfisch steifen Ich, ein Sich-Hineinversetzen in eine paradiesische Welt, ein pastorales Getue, wie es Goethe in Weimar mit Schäferspielen im Ilmpark für den großherzoglichen Hof schon vorgemacht hatte. Doch erstaunlich: Das seit gut zwanzig Jahren restaurierte und zur Besichtigung freigegebene Schmuckstück Swiss Cottage ist kaum bekannt und fehlt auf den Landkarten. Aber wir Europäer sind ja auch erst dabei, uns in ein neues Biedermeier hinein zu entwickeln.

Mit meinen Freunden Trixi und Peter nach Limerick. Zu dumm, dass mir die Stadt bis dahin nur durch die als Limericks bezeichneten Verse ein Begriff war. Jetzt wurde mir der Besuch im dortigen Frank-McCourt-Museum ein besonderes Erlebnis, weil ich sehen und nacherleben konnte, in was für Hungerleider-Verhältnissen der Junge aufgewachsen ist, der später das großartige Buch geschrieben hat: „Angela’s Ashes“, auf deutsch 1996 unter dem Titel “Die Asche meiner Mutter” erschienen. Ich hatte es vor einigen Jahren gelesen, mit Begeisterung. Die in Limerick geborene und ausgebildete und inzwischen renommierte Malerin Una Heaton hat besonders liebevoll ein kleines Museum in der Grundschule eingerichtet, die Frank McCourt besucht hatte. Dort begegnete ich ihr jetzt und – in ein paar stummen Achtungssekunden – auch der Asche des erfolgreichen Kollegen und Pulitzer-Preisträgers, der vor vier Jahren in seiner Geburtsstadt New York gestorben ist. Dieses noch recht neue Museum ist ein weiterer Anlass für Literaten, einmal einen Besuch im Literatenland Irland zu machen!

Das ist doch alles nichts als Blarney, soll Königin Elisabeth I. gesagt haben, nachdem der Herr der Burg Blarney es verstanden hatte, mit endlos schönem Gerede die geforderte Übergabe der Burg zu verhindern. Seitdem heißt to blarney soviel wie bloß Märchen auftischen. Märchenhaft ist aber auch wirklich einiges an diesem imponierenden Bauwerk aus dem späten Mittelalter. So der berühmte Stein von Blarney, der nach hundert Stufen erreicht wird, weil er direkt unter den Zinnen des Wohnturms eingebaut wurde. Ein Findling mit etlichen Herkunftsdeutungen, eine so märchenhaft wie die andere und wie das Versprechen, wer ihn küsse, gewinne damit die Gabe der Eloquenz. Den Kuss habe ich mir gespart. Als ein Märchen entlarvten die Männer Cromwells auch den Glauben, diese Festung sei uneinnehmbar. Doch als ein wahrer Märchengarten zeigt sich die wild gestylte Parklandschaft rundum, zwischen, über und unter Felsen. Da gibt es Hexen und Druiden und sogar eine Treppe, die Wünsche erfüllt. Und man kann Farnbäume bewundern und sich damit in Urzeiten zurückversetzen, als Farnbäume die allerersten Bäume auf der Erde waren. Sogar einen Giftgarten gibt es. Hatte auf dem Kontinent Karl der Große seinen Landvögten die strikte Anweisung gegeben, hinter jeder Burg einen kleinen Garten mit Heilkräutern anzulegen, so überrascht Blarney mit dem Gegenteil: Was uns als Giftpflanze gefährlich werden kann, ist hier versammelt, ordentlich mit Namensschildchen versehen. Hanf und Schlafmohn sogar hinter Gittern. Also wie im wahren Leben: Meist sind es ja nicht die Schlimmsten, die eingesperrt sind.

Der Rock of Cashel ist der Stolz der im Süden lebenden Iren. Er war seit dem 4. Jahrhundert der Sitz der Könige von Munster. Die Kathedrale auf dem hohen Felsblock neben dem runden Turm zeigte nicht nur die beiden herrschenden Gewalten. Sie standen so eng zusammen, weil etliche der dort residierenden Herren mit dem Titel Hoher König gleichzeitig auch die Bischöfe der Kathedrale waren. Die Engländer bereiteten im Jahre 1647 mit einem Massaker, dem einige hundert Menschen zum Opfer fielen, der irischen Herrschaft und der stolzen Kathedrale ein schnelles Ende.

Überall die Spuren der ewigen Auseinandersetzung zwischen den katholischen Iren und den protestantischen Engländern. Wobei – wie bei den Streitereien in Nordirland – nicht eindeutig festzustellen ist, ob das Religiöse nur ein Anhängsel des Politischen ist oder ob man genau umgekehrt beim Politischen von einem bloßen Anhängsel des Religiösen sprechen müsste. Doch kann die Frage, ob Politik oder Religion hinter den Auseinandersetzungen stand und steht, als Alternativfrage abgetan werden, wenn man konstatiert: Alles ist politisch, oder aber mit der Selbstsicherheit des Gläubigen sagt: Religion ist alles.

Cobh heißt das Städtchen mit dem Hafen von Cork und mit einer gewaltig großen Kathedrale in neugotischem Stil. Nur im ersten Gang zu schaffen, weil es überall steil bergauf und bergab geht. Weshalb man an einer Straße die Häuser so zusammengerückt aufgebaut hat, dass sie wie ein Kartenspiel auf der Hand erscheinen. Hier lebt man vom Hafen, von den großen Kreuzfahrtschiffen, die an der langen Pier anlegen, und von der intensiv gepflegten Erinnerung an die Auswanderer, die von hier ins Ungewisse aufbrachen, sowie an die Titanic, die hier vor der Katastrophe das letzte Mal angelegt hatte.

In Cloyne steht er an der Hauptstraße wie bestellt und nicht abgeholt: Der Rundturm aus dem elften Jahrhundert mit dem Eingang in beträchtlicher Höhe über dem Straßenniveau. Die letzte Zuflucht von einst verlangt einem heute viel an Vorstellungskraft ab. Beispielsweise die Wikinger, die immer wieder an den Küsten Irlands landeten und ihre Raubzüge ins Landesinnere machten. Später waren es religiöse Auseinandersetzungen, die Menschen in den Turm trieben, wenn sie nicht gar als Gefangene dort eingesperrt wurden.

Die Fahrerei auf den engen und tausendfach gewundenen Straßen Irlands ist ein Abenteuer, das gute Nerven erfordert. Weil die Räder des Wagens immer nur wenige Zentimeter vom ausgefransten Rand der Asphaltierung weg sind, auf der anderen Seite auch nur wenige Zentimeter von den entgegen kommenden Fahrzeugen entfernt. Ein aneinander Vorbeirasen in hundertprozentigem Gottvertrauen, dass einem hinter der nächsten Biegung oder dem nächsten Hügelabriss nicht ein Wahnsinniger entgegen kommt, der auf der falschen Spur ist. Das könnte man spannend nennen. Ich war froh, dass ich es überlebt habe.

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