Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks

Bericht aus der Terra incognita

(Ingo Schulze: 33 Augenblicke des Glücks, Erzählungen, Süddeutsche Zeitung Bibliothek, München 2008, gebunden 252 Seiten, € 5,90)

Der Literaturkanon der Süddeutschen Zeitung, der die international wichtigsten belletristischen Werke des 20. Jahrhunderts als Neuauflagen zum Sonderpreis zu versammeln behauptet, bietet die Möglichkeit der kritischen Neubewertung aus einigem zeitlichen Abstand. Bei dem 1995 im Berlin-Verlag erschienenen Buch, das die hochgelobte literarische Debütantenarbeit eines Theatermannes und Anzeigenblattmachers darstellte, zeigt sich, wie wertvoll diese Chance des zweiten Blicks sein kann. Und wie wichtig auch als Korrektiv. Waren die neunziger Jahre doch die Zeit, da man in den Debütanten in fast allen Verlagshäusern blauäugig eine neue Marktchance sah. Das war ein Novum, also gut. Und wenn die Entdeckung dann auch noch aus der ehemaligen DDR kam, umso besser.

Einen Pluspunkt jedenfalls für die Idee, diese Sammlung von Gelegenheitstexten, die zum Teil nicht einmal als Kurzgeschichten, eher als Kurztexte zu bezeichnen wären, durch die Rahmenerzählung von einer im Zug gefundenen Mappe zusammenzufassen. Ein in der Literatur bewährtes Mittel, Disparates durch ein gewillkürtes Band zusammenzuhalten. Einen Pluspunkt verdient auch der Buchtitel, der Werbeerfahrung verrät, nämlich in der Art, wie das nur positiv besetzte Reizwort Glück herausgestellt wird, ohne Rücksicht darauf, dass längst nicht alle Texte etwas mit Glücksgefühlen zu tun haben. Dabei sogar die Gefahr missachtend, dass der Buchtitel besser sein könnte als das Buch. Es handelt sich laut Klappentext um Arbeiten aus dem ersten Halbjahr 1993, das Schulze als Zeitungsmann in St. Petersburg verbracht hat, doch der Autor konfrontiert und akkompagniert das Ich seiner Erzählungen mit immer anderen Personen, was natürlich belebend wirkt. Demselben Zweck sollen auch die vielen Personennamen dienen, die man sich nicht merken kann, auch nicht merken muss, wie man bald feststellt. Und die ständigen Erwähnungen von Begriffen aus dem St. Petersburger Stadtplan sollen Atmosphäre schaffen und dem Ganzen eine spezielle Exotik verleihen.

Das ist alles recht geschickt gemacht. Und einige dieser kurzen Geschichten sind auch wirklich gut in Situationsschilderung, Handlungsablauf und Sprache, so beispielsweise die erste und die letzte. Auch das geschickt, wie gesagt. Aber dazwischen gibt es Texte, die in einer erstaunlichen Holprigkeit daherkommen, schon an Verwaltungssprache angelehnt. Sie zeigen nicht etwa eine holzschnittartige Sprache, sondern schlichtweg eine hölzerne. So die Geschichte „Die einzige Zeit“. Da fragt man sich, warum man als Leser jede einzelne Handbewegung und jedes Pfeifen eines Wasserkessels miterleben muss, wenn diese Geschehnisse bloße Kulisse sind, aussagelos. Und beispielsweise die Erzählung „Haben Sie gesehen?“ ist eine Räuberpistole, die sich bemüht, jeden Brutalo-Krimi noch zu toppen. Zumindest für den Rezensenten kein Augenblick des Glücks.

Die Neubewertung dieses Debüts – von späteren Arbeiten des Autors abgesehen – kann nur zu dem Ergebnis kommen: Teils schon überraschend gekonnt, teils bloß bemüht, aber vielversprechend, teils nur mit viel gutem Willen zu lesen. Also alles so, wie bei einer Neulingsarbeit nicht anders zu erwarten. Doch die Aufnahme in den Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts ist eine Übertreibung, die dem Autor Ingo Schulze vermutlich mehr peinlich als angenehm ist.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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