In N’awlins (1986)

Man muß wissen, dass die Einwohner von New Orleans ihre Stadt N’awlins nennen. So fremdartig sich das anhört, in Wahrheit bietet die Stadt ein Stück altes Europa, nämlich das French Quarter, wie die Amerikaner das Vieux Carré nennen, die Altstadt, das Herzstück dieser Metropole des Südens. Das ist das Hätschelkind aller Europabegeisterung der Amerikaner. Unübersehbar: European style ist das non plus ultra. Jeder, der einen französisch, italienisch oder deutsch klingenden Familiennamen hat, erklärt einem stolz, daß er ein European descendent sei. Da weiß man als Deutscher endlich, worauf man sich – ohne jede Anstrengung – was einbilden kann.

Abgesehen von den großen Einkaufszentren, das eine in einer ehemaligen Brauerei und das andere, River Side beim Hilton, in denen man ganze Tage verbringen könnte, abgesehen von diesen Konsumheiligtümern, die Stadt hat ein Doppelgesicht: Das Schachbrett der pittoresken alten Wohnblocks mit anheimelnden Innenhöfen im French Quarter, gleich nebenan der Business District mit seinen himmelstürmenden Hochhäusern. Und eine abenteuerlich gemischte Gesellschaft, die zwischen diesen beiden Teilen der Stadt hin und her schwappt. Im Business District stehen überdimensionierte Hotelkästen neben ebensolchen Bürokästen, fast könnte man sagen: Sie wetteifern in der nichtolympischen Disziplin des Wolkenkratzens: höher, protziger, kurioser. Dabei treten sich die Giganten aber nicht auf die Füße. Das ist kein Manhattan. In New Orleans steht man vereinzelt herum, wie auf einer schlecht besuchten Party. Die Fassaden der Hochhäuser glatt und verschlossen, nur zu ahnen, daß die einen am Tag so voller Menschen sind wie die anderen bei Nacht, diese jetzt so leer wie jene bald schon wieder. Als ob ein mittleres Gesamtgewicht der Riesenkästen auf dem sumpfigen Stadtgrund durch ständigen Ausgleich der Füllung beibehalten werden müßte.“

Bei Regenwetter werden die Wolkenkratzer sämtlich von den Wolken halbiert, auf europäisches Einheitsmaß zurechtgestutzt. Da kann man sie gleich ganz vergessen. Denn die Spitze, das ist in New Orleans sowieso das French Quarter. Und das muß man zu Fuß durchstreifen. Ein Stadtviertel wie eine schöne Frau: Von der einen Seite her gesehen immer noch attraktiver als von der anderen.“ Man kann nur noch dastehen und gucken. Die zwei- und dreigeschossigen hundert bis zweihundertfünfzig Jahre alten Häuser mit ihren gittergeschmückten Balkons. Die Abwechslung in Pastellfarben, die jede Straßenflucht zum Postkartenmotiv machen. Wie von Werbeleuten hingestellte Kulissen, die den Umsatz der Fotoindustrie in die Höhe treiben sollen. Ein amerikanisches Rothenburg ob der Tauber beinahe. Und dann in der Hauptflanierstraße, der Bourbon Street, ein Angebot, das auf Schritt und Tritt wechselt zwischen Musik, Essen, Trinken und Fleischbeschau. Ein Hauch von Reeperbahn. Auf dem Pflaster aber keine Autos, sondern Kinder mit superartistischem Breakdance. Und auf der nächsten Parallelstraße, der Royal Street, plötzlich vornehme Distinguiertheit, Kunst und Antiquitäten. Und wienerische Fiaker mit Uncle Tom auf dem Bock.

Der letzte Schaufelraddampfer, der von New Orleans noch ablegt, die prächtige ‚Natchez‘, ist so ein Schiff, wie von Mark Twain beschrieben, der ja als Lotse auf der Brücke gestanden hat. Aber das gute Erinnerungsstück schaufelt die Touristen nur noch ein winziges Stückchen den Mississippi rauf und wieder runter, auf dem nichts zu sehen ist außer Massen von Frachtkähnen, die am Ufer vor sich hin rosten, weil es keine Aufträge gibt. Dafür dröhnen einem unausweichlich die pausenlosen Erklärungen des Kapitäns über mindestens hundert auf dem Schiff verteilte Lautsprecher in die Ohren. Gutgemeinter Erlebnisterror. In der Stadt fährt auch noch die alte Straßenbahn, sogar die mit dem Schild ‚Desire‘ an der Stirn, aber sie hat nichts mehr gemein mit dem Stück ‚Endstation Sehnsucht‘ von Tennessee Williams. Denn in den Stadtteil mit dem schönen Namen Sehnsucht fährt man nicht mehr, er ist schon Slumgebiet.

Besser, einen aufmerksamen Blick auf die Zeitungen und Reklameflächen rundum zu werfen. Nur so erfuhr ich, daß die Stadt N’awlins heißt. Eine Abschleifung, wie wir sie ja auch bei uns daheim gerne vornehmen. Aber dann fiel mir auf: Die Amerikaner laufen dem Schulenglisch davon. Sie schreiben mit Vorliebe so, wie man spricht. Schon ist auf den Hinweisschildern der Hotels die Nacht nite geschrieben statt englisch night. Das Bier schreiben sie lite statt light. Und an jedem Motel lese ich das appetitanregende Kürzel Bar-B-Q: Bar, Bindestrich-B, Bindestrich-Q. Auf den Verkehrsschildern heißt es abgekürzt thru statt through. Auch die Schilder, auf denen man einfach mit u angesprochen wurde statt mit you. Statt for you schreiben sie in der Werbung einfach 4 u. Wer eine Autowerkstatt sucht, der muß nach einem Schild Ausschau halten, auf dem steht: Kar Kare.

Ich habe mir den Luxus erlaubt, mit einem Mietwagen die nähere Umgebung der Stadt zu erkunden. Schon allein das beruhigende Kinderwagenschaukeln eines amerikanischen Straßenkreuzers ist ja ein Erlebnis. So behäbig beim Anfahren – Geduld, Geduld, ich komme schon -, und dann ein Gefühl wie im Selbstfahrer auf der Kirmes. Das Auto bringt einem amerikanische Lebensart bei: take it easy. Und es läßt einem Muße fürs Sightseeing. Hundertfünfzig Jahre alte Plantagen und Herrensitze, die sogenannten Antebellum-Häuser, die einen in die Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg versetzen. Da war noch nicht alles ‚Vom Winde verweht‘, da hatte ich eher den Eindruck, daß der Film zurückgespult wird. Zwischen Zuckerrohrfeldern und Eichenwäldern strahlend weiße Palais mit selbstbewußt auftrumpfenden Säulenreihen. Da kann man das Lebensgefühl der früheren Herren über hunderte schwarzer Sklaven nachempfinden. Mangels anderer Beschäftigung kümmerten diese Herren sich vor allem um ihre Ehre. Sie duellierten sich eifrig durchs Leben – oder auch ums Leben. Das beschäftigte Totengräber, Ärzte und Fechtmeister, sorry, in umgekehrter Reihenfolge natürlich. Einer der berühmtesten Fechtmeister dieser Zeit, wie hieß er noch gleich? Pepe Llulla, das war ein Mann, der in allen einschlägigen Waffengattungen das absolute As war. Und nicht nur das. Der Mann war auch ein echter Unternehmer. Von den reichen Erträgen seiner Fechtakademie kaufte er einen Friedhof, den er dann als private Sozialleistung der Öffentlichkeit zum Gebrauch anbot. Womit er bei vielen seiner Schüler ein zweites Mal abkassierte.

Auch nach der Zeit der Ehrenhändel blieb New Orleans für sonderbare Karrieren gut. Beispielsweise für Louis Armstrong, nach dem heute ein großer Park in der Innenstadt benannt ist. Schön, daß er in verräucherten Jazzlokalen seinen Silver Sound entwickelt hat, das weiß jedes Kind. Aber daß er als mißratenes Kind anderthalb Jahre Jugendarrest abgesessen hat, wer weiß das schon? Und das nur, weil er als Dreizehnjähriger den Neujahrstag mit einem Pistolenschuß begrüßt hatte, scharf geschossen, wenn auch in die Luft. Das war der Startschuß zu einer Superkarriere. Denn im Jugendarrest drückte ihm einer der Erzieher die erste Trompete in die Hand. Da mußte er für die Arrest-Band üben. Als Klein-Louis aus der Arrestanstalt kam, wußte er, was er werden wollte: the king of jazz.

Ich war im Jazz-Museum von New Orleans. In der ehemaligen Münze an der Esplanade. Ein idyllisches Arrangement, für einige genießerische Augenblicke genau das Richtige. Wenn man mal keine Musik hören möchte. Denn in diesen Räumen, in die sich kaum ein Mensch verirrt, gibt es keinen einzigen Ton Musik. Hier herrscht nur andächtige Ruhe, Auge in Auge mit den Großen des Jazz, mit Plakaten, Dokumenten, Instrumenten, abgeschirmt durch die besonders dicken Mauern der alten Münzanstalt. Und dabei ist draußen die Altstadt voller Musik. Tag und Nacht eingetaucht in Jazz, auf den Straßen und Plätzen wie in den Lokalen, da gibt es kein Entrinnen – außer ins Jazz-Museum. Die Geburtsstadt des Jazz ist auch noch hundert Jahre später fruchtbar. Dixieland, Basin Street Blues, dazwischen harter Rock, auch kreolische und karibische Songs. Und nicht zu vergessen: der sound of jazz, der übermorgen legendär sein wird. Dafür gibt es ein Zauberwort: Preservation Hall. Dort, Saint Peter Street, Ecke Bourbon Street, stehen die Jazzenthusiasten aus aller Welt schon am Nachmittag Schlange wie vorm Himmelstor.

Musik, mehr als man Ohren hat. Wer aber mehr für die Genüsse des Gaumens ist, braucht in N’awlins nicht schlangezustehen. Restaurants aller Art und Kaliber. Die Südstaatler sind Genießer. Ortstypisch und ein Muß für jeden Besucher ist die Kochkunst der ersten französischen Siedler: cajun genannt. Das größte Frühstücksbuffet sollte es sein, was das Landmark-Hotel an der Bourbon Street bot: Fünfzehn Meter Theke mit taste, taste taste, fest und flüssig, eisgekühlt und dampfend, quer durch alle Geschmacksrichtungen. Und auf der Galerie daneben unter den Tiffanylampen stehn richtig brauchbare Sessel an den Tischen, Sessel ohne Kunstlederbezug. Ein Luxus, den man in den USA bekanntlich selten findet. Die Amis strapazieren die Polster halt mit zu vielen Streuverlusten bei ihrer freizügigen Einhand-Eßweise. Selbstverständlich gab ein Sänger-Pianist das Seinige dazu, und über allem ließ der große Manitou von Amerika, genannt Fan, seine Finger unermüdlich kreisen. Denn bewegte Luft ist in heißen Gegenden nicht einfach nur bessere Luft, sie wird als so was wie Lebenshauch empfunden.

(Lesen Sie mehr über New Orleans in meinem Buch „Odyseus‘ Dilemma„, netzine.de/edition, Mannheim 2001, Paperback 348 Seiten, 14.75 Euro, ISBN 3-00-004700-X)

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