In der Sackgasse

Die Nacht so schwerschwarz und der Wagen so schnell. Diese Abzweigung? Ist das die Abkürzung? Was sagt die Karte? Der lichte Moment mit der Innenbeleuchtung half nicht viel, störte nur beim Fahren. Erich fluchte und beschleunigte wütend. Also auf das winzige Lämpchen verzichten. Ohnehin keine Frage mehr, ob die Abzweigung richtig war oder nicht. Längst vorbei. Und in das nächste dunkle Loch, das sich rechts öffnete, hineingerutscht. Viel zu schnell, protestierten die Reifen. Macht nichts, einfach sportlich, brummte Erich. Er war der Kapitän, ihm konnte man nicht widersprechen. Bloß dumm, daß die Scheinwerfer immer nur geradeaus sehen können. Offenbar eine Endloskurve mit grell aufleuchtenden Hauswänden links und tückisch verdickter Schwärze rechts. Erich hielt sich so dicht wie möglich an die Hauswände links, ließ die Lichter über brettervernagelte Fenster und mit Latten verriegelte Türen lecken. Hier wohnt kein Mensch, wir sind am Ende der Welt angekommen, stöhnte er. Ein heftiges Kratzen und Klirren antwortete ihm. Was war das?
Es dauerte einen Moment, bis wir verstanden, was passiert war. Das Kratzen rechts vorn, das schmirgelnde Anschmiegen an die helle Wand links, das Zersplittern von Glas, dann nur noch das unwillige Schnurren der durchdrehenden Räder hinter uns. Wir sitzen fest. Erich sagte es so leise, als wollte er den Rückwärtsgang nicht entmutigen, den er jetzt einlegte. Sehr sanft die Kupplung kommen lassend, die uns schüttelte, den Wagen aber nicht vom Fleck bewegte. Verdammt, wir sitzen fest, brüllte Erich los. Aussteigen!
Im Scheinwerferlicht sahen wir: Die Gasse war zwei Handbreit schmaler als unser Wagen. Vorne hatte er ihr Format angenommen, duldsam. Doch recht und links kein Mensch, der ein Fenster öffnete, mit einem Licht kam, fragte, was passiert sei. Ruhe rundum, Ruhe, in der wir feststaken. Für den Wagen war die Straße zuende, nicht aber für die beiden jetzt glaslos glotzenden Scheinwerfer. Sie zeigten, daß die Gasse weiterging. Gerade nur noch zwei Mann breit. Aber am Ende stand ein großes Haus, und in seiner Fassade zeigte sich das einzige helle Fenster der Gasse, soweit wir sie überblicken konnten. Also kletterten wir über die zusammengedrückten Kotflügel nach vorn und gingen zu dem großen Gebäude, das die Gasse abschloß. Vielleicht könnte uns dort weitergeholfen werden. Eine Hoffnung läßt sich ja immer finden, und hier schien sie sogar berechtigt: Wer an einer so unmöglich eng gebauten Zufahrt lebt, muß mit den Problemen vertraut sein, die sie mit sich bringt.

In dem Haus mit dem einzig erleuchteten Fenster trafen wir auf drei Frauen. Schon schlecht, seufzte Erich. Wie kann man eine so elend enge Zufahrt bauen, knurrte er die an, die uns freundlich hereingebeten, uns guten Abend gesagt und das Sofa für uns drei freigemacht hatte. Nun saßen sie uns auf drei Stühlen gegenüber, saßen höher als wir, die drei Frauen, so daß wir zu ihnen aufsehen mußten, und hörten sich unser Lamento an. Mit einer Geduld, die sie wie Wesen von einem anderen Stern erscheinen ließen. Dabei sahen sie durchaus einheimisch aus. Drei Griechinnen, die älteste ganz in Schwarz, die jüngste in einem grellbunten und viel zu engen Pullover und einer Art Radrennfahrerhöschen. Die altersmäßig dazwischen zu vermutende trug einen weißen Kittel.
Und sie, die in Weiß, verriet uns, daß sie die Hausmeisterin dieses Anwesens sei. Ein Palast, selten benutzt, jetzt so leer wie fast immer, verstanden wir mit einigen Schwierigkeiten. Wir hörten was von internationalen Symposien, die dort stattfanden, manchmal. Wir identifizierten als die Hausgötter Präsident und Vizepräsident und Kuratorium. Nie zu sehen, ihr Tempel leer. Aber sauber, betonte die Frau in Weiß. Immer sauber. Dafür sorge ich. Dabei kommt kein Mensch in diese Gasse. Alle bleiben auf der großen Straße. Eine gute Straße. Alle glauben der Straße. Nichts mit Anschnallen und mit Sturzhelm. Unsere Männer kennen die Straße. Unsere Männer wissen, wie man mit der Straße umgeht. Und in das griechische Eilhaspeln mit den vielen englischen Sprachbrocken hinein das eifrige Kopfnicken der beiden anderen Frauen und ihr Nä-Nä-Nä als Bestätigung.

Sie können hier übernachten, bot die Hausmeisterin ihre Hilfe an. Essen mache ich sowieso. Und beinahe weltläufig stellte sie uns die beiden anderen Frauen vor. Meine Nachbarinnen im letzten Haus vor dem Palazzo auf der einen Seite und im letzten Haus auf der anderen Seite. Wir sind die einzigen Bewohner der Gasse. Die letzten Getreuen, eine Sackgasse, sagte sie achselzuckend. Dann plapperte die in Schwarz in einer Weise los, als hätte sie nur eine Sorge, nämlich daß man sie unterbrechen könnte. Und schließlich sprachen sie alle drei gleichzeitig auf uns ein. Weiß der Teufel wovon.

Am nächsten Tag fanden wir nahebei eine Werkstatt mit einem Ölverschmierten, der bereit war, den Wagen abzuholen. Sehr gut. Doch wie der Mann unser gutes Stück aus der Klemme riß, das tat weh. Auch daß er drei Tage brauchen würde, um die Bleche auszubeulen und neu zu spritzen. Doch bot die Hausmeisterin uns als Trost an, wir könnten bei ihr im Haus wohnen bleiben, und das sogar kostenlos. Ist ja doch leer. So blieben wir in der Sackgasse, drei Männer voller Pläne und Unruhe und voller Wut auf den Ölverschmierten, der soviel Zeit brauchte, um unseren Wagen zu reparieren. Voller Dankbarkeit auch, wenn wir es in Ruhe durchdachten, für die geradezu altgriechische Gastfreundlichkeit der Frau im weißen Kittel. Nur daß wir kaum einmal die Ruhe hatten, so zu denken. Denn die drei Frauen waren immer um uns. Dabei suchten sie nicht unsere Unterhaltung. Sie sprachen, sprachen beinahe pausenlos auf uns ein, meist alle drei gleichzeitig. Mit dreistimmigem Augenaufreißen, Händeflattern und Sichverbiegen. Sechs Ohren voll von ihren Geschichten, sechs Ohren aus drei Mündern gespeist, sie konnten annehmen, das sei ein gutes Verhältnis. Doch wir hatten enorme Schwierigkeiten, die Geschichten zu trennen, mußten uns immer wieder untereinander darüber aufklären, was wir gehört hatten und was wozu gehörte.
Die in Weiß redete von einem Mann, der ein Säufer war. Und nicht genug damit, daß er das Familieneinkommen verschwendete und selten ansprechbar war, er war auch noch gewalttätig. Er arbeitete bei der Müllabfuhr, empfand seine Arbeit als erniedrigend – wer ist man denn – und bewies seiner Frau, daß er wie ein richtiger Mann auftreten konnte. Die Hausmeisterin öffnete ihren weißen Kittel an neutralen und weniger neutralen Stellen und zeigte uns die Male, mit denen der Mann sich auf dem Körper seiner Frau verewigt hatte. Eine strahlend helle Marmorstatue mit etlichen dunklen Stellen, natürlichen und weniger natürlichen. Mit dem Stocheisen, mit brennenden Zigaretten, mit einer heißen Bratpfanne ihr aufgeprägt. Wir wollten es so genau gar nicht wissen, mußten es aber immer noch genauer erfahren und sehen und waren schließlich heilfroh, als die Frau mit der Erklärung herauskam, daß sie in ihrer Verzweiflung von daheim davongelaufen sei. Leben ohne Mann ist hundertmal besser als mit so einem Mann, war ihr Resümee. Dabei knöpfte sie ihren Kittel zu, aber nur bis in halbe Höhe. Sie drückte das Kreuz durch und schlug mit zwei arbeiterfaustgroßen Brüsten vor uns das Rad. Und wir waren beeindruckt. Denn verarbeitete Fäuste wirken erschreckender als kleine Mädchenfäuste.
Die im schwarzen Flattergewand, die Haare ebenso schwarz und dabei wirr um den Kopf wedelnd, sprach von einem Mann, der sie nie geschlagen hatte. Nein, er war mehr interessiert an Fischen. Jeden Tag fuhr er zum Fischen hinaus aufs Meer, das auch jetzt gleich hinter dem Palast seinen ewigen Brandungsatem hören ließ. Der Mann war ein erfolgreicher Fischer, verkaufte seine Beute gut und brachte Abend für Abend voller Stolz eine gute Handvoll Geld heim. Das Geheimnis seines Erfolges war: Er fischte mit Dynamit. Weit draußen, wo niemand hören und sehen konnte, wie die todbringende Ladung im Wasser explodierte und er ohne große Mühe sein Netz füllen konnte. Doch dann kam der Tag, an dem er etwas falsch gemacht haben muß. Das Dynamit explodierte zu früh und riß ihm eine Hand ab. Mit der anderen Hand zerrte er das Steuerruder herum. Er gab Vollgas. Und sein Boot eilte gehorsam heimwärts, beeilte sich aber nicht genug. War langsamer als das heftig sprudelnde Blut. Als der Kahn krachend auf den Strand hinterm Haus auflief, lag der Fischer tot auf der Bank. Was sind schon sieben Liter Blut in einem Ozean, schrie die schwarze Witwe uns an. Und schwor Poseidon blutige Rache, weil er ihren Mann weggetrunken habe. Mit den Augen so wild gestikulierend wie mit den Händen. Dabei wühlten die schwarzen Zotteln um ihren Kopf, bedrohlich züngelnd wie beutelüsterne Schlangen.

Die etwas zu bunt und auch zu eng eingepackte Jüngste verwirrte uns mit ihrer Sorge um die Kinder, die immer wieder hereintobten und irgendwas von ihr wollten. Die ist von meinem zweiten Mann, der von dem dritten, die Große ist von meinem ersten. Der erste war so zärtlich, schwärmte sie. Von dem zweiten berichtete sie, daß er so großzügig war. Und der dritte hatte eine gute Position bei der Regierung. Wunderbare Männer alle drei, ja. Wo er jetzt lebe, der dritte, könne sie nicht sagen. Und auch der zweite hatte sich nie mehr gemeldet. Und der erste – nein, weiß ich nicht. Nein, nein, verheiratet war ich nie, mußte sie dann zugeben. Aber doch glücklich, immer wieder für eine Weile sehr sehr glücklich. Bis ich einen dicken Bauch kriegte und nicht mehr so richtig konnte. Dabei machte sie so heftige Reitbewegungen, daß ihr vollen Brüste uns fröhlich zuwinkten, und sah uns an, einen nach dem anderen, als hätte sie ein Gott aufgefordert, ein reziprokes Parisurteil über uns zu sprechen.

Als wir es schließlich geschafft hatte, all das uns wirr durcheinander Zugetragene zu drei sauber separierten Mosaiken zusammenzufügen, sahen wir entsetzliche Gestalten vor uns. Nicht Präsident und Vizepräsident und Kuratorium, nein, Götter, Teufel und Dämonen. Und im nächsten Augenblick waren wir an der Tür und raus. Das war nach drei Tagen im Palast am Ende der Sackgasse. Wir rannten in Panik zu der Werkstatt des Ölverschmierten. Der sah nicht anders aus als zuvor. Aber unser Wagen stand da und glänzte uns an, so stolz, so frisch, daß wir nicht mehr die Geduld aufbrachten, dem Mann zuzuhören, nur zahlten und einstiegen und Gas gaben und uns fühlten wie wiedergeboren. Ein heller Morgen auf der großen Straße, die Karte auf dem Schoß und zielsicher nach Athen. Um endlich mal was zu erleben.

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