In 80 Tagen um die Welt

(Around the World in 80 Days, USA 1956, 155 Min., Regie: Michael Anderson, nach dem Roman „Die Reise um die Welt in 80 Tagen“ von Jules Verne)

Das Konzentrat des Konzentrats eines Konzentrats. In 155 Minuten erlebt der Zuschauer, was die Leser der französischen Zeitung „Le Temps“ 1873 in einem Fortsetzungsroman erlebt haben, nämlich die auf 115 000 Minuten konzentrierte Reise um die Welt des spleenigen Engländers Phileas Fogg mit seinem quirligen Diener Passepartout.

Ausgangspunkt war eine Wette von Mitgliedern eines vornehmen Londoner Clubs auf Möglichkeit und Unmöglichkeit einer schnellen Erdumrundung in nur 80 Tagen. Der Sonderling Fogg glaubt an die Realisierbarkeit, setzt darauf die Hälfte seines Vermögens, packt die andere Hälfte in bar in eine große Reisetasche und begibt sich mit seinem Diener ohne jegliche Planung und Vorbereitung zum nächsten Droschkenstandplatz. Die Uhr läuft. Per Bahn und Schiff geht es nach Frankreich, per Freiballon nach Spanien, dann  auf dem Wasserweg nach Osten. Eine Folge von immer neuen Schwierigkeiten, die mit großzügigem Geldeinsatz gemeistert werden. Die Verkehrsmittel wechseln schnell: Schiffe, Züge und ein Elefant. Es geht durch fremde Länder und ist doch nicht wirklich eine Reise, weil der vornehme Herr in Cut und Zylinder, den gerollten Stockschirm immer griffbereit, nichts von den Ländern mitbekommt. Er läßt sie ungerührt an sich vorbeiziehen, während er eine Partie Whist nach der anderen spielt. Auch mit dem britischen Polizeiagenten Fix, der sich an ihn heranmacht, weil er ihn für einen Bankräuber hält, der sich durch diese Reise dem Zugriff der Polizei entziehen will. Fogg gefährdet seinen Wetteinsatz, als er sich in Indien zu einer Geste des Mitleids hinreißen läßt. Sein Diener rettet die zum Flammentod bestimmte schöne Witwe eines Reichen, und Fogg macht sich einer Entführung schuldig, indem er die junge Frau, für die er nichts als perfekt britische Korrektheit übrig hat, auf seine weitere Reise mitnimmt. Nach Kämpfen mit Indianern und einer höchst ungewöhnlichen Atlantiküberquerung kommen die Reisenden rechtzeitig in England an, wo der Polizeiagent Fix den angeblichen Bankräuber Fogg festnehmen läßt. Als er seinen Irrtum erkennt und korrigiert, ist alles zu spät. Die Wette ist verloren. Zum Trost will Fogg die schöne junge Witwe heiraten. Da bringt der Film mit einem unerwarteten Aspekt die entscheidende Wende. In letzter Sekunde kommt Fogg doch noch rechtzeitig in seinen Club, wo er sich als Gewinner der Wette begrüßen lassen kann.
Eine Vorführung von Besonderheiten aus aller Welt im Schnelldurchgang, wie ihn heute ein Rundgang durch Disney World bietet. Die große weite Welt als Fast food. Kein Wunder, daß dieses Buch schon zuvor zweimal verfilmt wurde, 1914 in den USA und erstaunlicherweise 1918/19 in Deutschland. Die billigste Art, die Welt kennenzulernen. Scheinbar. In Wahrheit wird hier nicht die Welt vorgeführt, sondern der Mensch. Es wird das Bild eines völlig desinteressierten Reisenden geboten, der sich die Welt unter den Nagel reißt, ohne was davon zu haben. Das paßt zu dem Zukunftsbeschreiber Jules Verne (1828 – 1905), der für seine geniale Vorwegnahme von technischen Erfindungen gerühmt wird, weil er U-Boot und Flugzeug, Fernsehen und Raketen schon in seinen Romanen beschrieben hat, längst ehe die Techniker sie konstruieren konnten. Mit diesem Roman hat er einmal keine technische Erfindung vorweggenommen, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung: das Aufkommen des ignoranten Touristen, der nur um des Reisens willen reist und dabei so begrenzt bleibt wie er war. Jules Verne hat damit bewiesen, daß er doch viel mehr Dichter ist als nur der Vater des Science-Fiction-Romans.

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