Ja, stimmt, und da müsste man sich eigentlich auch besonders sicher fühlen, weil so imposante Felskolosse die Straßen flankieren. Aber sie machen mich klein und lassen mich verloren erscheinen, wie zwischen die Beine von Mammuts und Elefanten und Riesendinos geraten. Da nützt mir nicht einmal, dass ich mir vorstelle, das unendliche Himmelsblau sei bloß phantasievoll mit Bergzackenbildern bemalt, um keine blaue Langeweile aufkommen zu lassen. Nein, alles ist Wirklichkeit, wenn auch ein bisschen übertrieben. Etwa dass die stoppelbärtigen Hänge von der halben Höhe bis in die letzten Spitzen weiß überpudert sind, das wäre wirklich nicht nötig gewesen. So ein zusätzlicher Aufwand. Bin ich doch schon zufrieden damit, dass die Straße keine Löcher aufweist, dass Sturm und Eis abgemeldet sind und der Steinschlag ein anderes Timing hat als ich.
Versuche ich also, zu genießen. Den Glitzerbach, der die Schlangenfahrlinie der Straße mitmacht. Das blühende Heidekraut am Südhang, Ende März statt Ende September, wie es sich eigentlich gehört. Das heißt: Auch in den Pflanzenfamilien gibt es diese Ausreißer.
Und dann plötzlich eine breite Handfläche voller Ortschaft. Hingestreuselte Behausungen, unten Bruchstein, oben Holz, mit langen Balkonen, die noch ohne die bunt überquellenden Blumenkästen sind. Das gibt den Häusern mit den flachgewinkelten, überstehenden Dächern, diesen zwei Nummern zu großen Einheitskopfbedeckungen, so fremde Gesichter, die dreinschauen, als hätten sie gerade einmal die Brille abgesetzt. Was ist denn auch zu schauen? Reklameschilder da und dort, dazu Autos, Werkstätten und Lagerschuppen, Straßenlaternen und Beschilderungen. Und ringsum hochaufragend das Ende der Welt.
Schon frühlingsgrün die Berghänge beim Weiterfahren. Angenehm. Aber gelegentlich breite weiße Zungen, die gegen den Talort rausgestreckt sind, mit den letzten Skifahrern auf dem Kanonenschnee, zwischen den Grenzmarkierungen und den rundmäuligen Schneespuckern rechts und links sich zu Tal stemmbogend oder wedelnd. Jeder zeigt, was er kann oder nicht kann. So auch in Gröbming.
Mit der Kabinenbahn hinauf auf den Schmitten, des Ausblicks wegen. Und oben angekommen als Spaziergänger ohne Skiausrüstung zwischen all den Menschen mit Brettern und klobigem Schuhwerk so fremd wie beim Spaziergang ohne Hund im Berliner Grunewald.
In Gröbming die kleinste Gradieranlage gesehen, die mir je in die Quere gekommen ist. Etwas so Intimes wie ein Eskimo-Iglu, nur höher und aus gebündeltem Zweigwerk bestehend statt aus Eis. Wäre sicher als Liebeslaube ideal, heftiges Durchatmen ist ja angesagt. Aber weil keine Salzsole läuft, Winterpause, lieber auf den Stoderzinken hinauf – und damit zurück in den Winter mit hohen Schneewällen rechts und links der Bergstraße. Die kleine Friedenskirche hinter der Handvoll Häuser am Ende der Straße aber bleibt unerreicht. Irgendwas steht dem Frieden ja immer im Weg. Hier ist es meterhoher Schnee.
Also weiter von einem Flecken zum nächsten. Der ist wie der letzte Flecken, nur mehr verputzte Wand statt Balkenwerk. Hier bestehen die Salzkammerguthäuser vor allem aus Mauern. Geschlossene Kuben mit wenig Fenstern, die recht kleinäugig in die Gegend starren. Die Wände sind hell, ganz weiß oder gelb oder bläulich, aber auch schon mal in einer überraschenden Ladenhüterfarbe, die der Hausherr als Sonderangebot bekommen haben muss.
Eine kleine Stadt im Gebirge mit imponierenden Teilen einer mächtigen Stadtmauer und drei Türmen, das ist Radstadt. Eine feste Ummauerung hatte man sich geleistet, die tatsächlich im Bauernkrieg die Erstürmung durch fünftausend Aufständische abwehren konnte. Jetzt ist in dem Städtchen bis auf zwei Kirchen und ein paar Häuserblocks nichts mehr, was zum Erstürmen lohnt, so dass sich der Eindruck aufdrängt, einer leergeraubten Truhe fehlten nur der Deckel und die zwei stabilen Griffe zum Wegtragen. Dabei sind uns nicht Räuber zuvorgekommen, sondern einige Stadtbrände.
Gmunden, die Konkurrentin von Bad Ischl, ist voll von Tafeln mit Erklärungen und alten Abbildungen zum Salzhandel und Salztransport. Trotzdem nennt Gmunden sich nicht Salzstadt, es firmiert lieber als Keramikstadt. Hört sich einfach besser an. Vor allem, wenn das schon aus dem 16. Jahrhundert stammende Glockenspiel an der Fassade des ebenso alten Rathauses bekannte Melodien erklingen lässt: Vierundzwanzig Keramikglocken werden angeschlagen. Überzeugend.
Die Speisekarte im 500 Jahre alten Restaurant „Zum Hacklwirt“ zählt unter der Überschrift „Legende Allergene“ leider nichts Historisches auf, sondern nur die vierzehn Stoffe, die für Gäste mit Allergien problematisch sind. So sei es gesetzlich vorgeschrieben, steht darunter. Nun ja, in jedem Land sorgt der Gesetzgeber für eigene Kuriositäten. Gut so, sonst brauchte man ja überhaupt nicht mehr ins Ausland zu fahren.
Ein Muss für moderne Touristen: Das Seeschloss Ort im Traunsee. Nur über einen langen Holzsteg zu erreichen. Schon im 10. Jahrhundert erbaut, doch zu sehen ist kaum was außer hohen Kaminen. Aber wer in den 1990er Jahren eifriger Fernsehzuschauer war, kann sich in die Fernsehserie „Schlosshotel Orth“ zurückversetzen, die dort gedreht wurde.
Bei der Weiterfahrt überall die Hinweisschilder „Salzwelten“. Also den Abstecher machen zu dem Salzbergwerk bei Altaussee. Und nach vielen gewundenen Asphaltkilometern dort vor der geschlossenen Tür stehen. Kein Sesam öffne dich! Nur die Angabe: Täglich geöffnet erst ab April. Das hätte als Information durchaus noch auf die im Umland angebrachten Hinweisschilder gepasst. Aber stattdessen nur: Ätsch! Und als Ersatz vielleicht ein Besuch im Altausseer Literarium? Nein, nirgendwo einen Hinweis darauf gesehen.
Dann auf einmal im Konzentrationslager Ebensee. In idyllischer Lage am Südende des Traunsees teilen sich ein großzügig gestaltetes Memorialgelände und eine Siedlung von Einfamilienhäusern den Platz, auf dem von November 1943 – Mai 1945 das KZ Ebensee stand. Hier steinerne Monumente mit Worten des Erinnerns und Tafeln mit Namen, Namen, Namen. Dort gepflegte Vorgärtchen und Terrassen mit Grill und Kinderspielzeug sowie dem Drahtkorb fürs Basketballspiel über dem Garagentor. Aber nichts mehr zu sehen von dem riesigen Barackenlager und dem Lager der Wachmannschaften nebenan. Das KZ Ebensee war ein Außenlager des KZ Mauthausen und diente dazu, gewaltige Fabriktunnel in den Hochkogel und Erlakogel oberhalb des Traunsees zu bauen. Dort sollten Raketen produziert werden, nachdem die Produktionsanlagen in Peenemünde durch britische Luftangriffe zerstört worden waren. Drei Stolleneingänge, hallenhoch und tief in die Felsen hinein führend. Der erste mit einem gewaltigen Tor aus Eisenstäben verschlossen, der zweite von Geröllmassen zugeschüttet und der dritte nur ein unheimlich dunkles Loch. Alles bleibt der Vorstellung überlassen.
Es war nicht einfach gewesen, den Weg zu den Stollen zu finden. Schließlich hatte uns der Briefträger geholfen, indem er mit seinem Volkswagen vor uns herfuhr. Das letzte Stück Weg die Anhöhe hinauf dann zu Fuß durch unwegsames Gelände. Die total ausgehungerten Zwangsarbeiter, die hier jeden Morgen hinaufgetrieben wurden, mit Holzklappern an den Füßen oder barfuß, auch im Winter, und nach zehn bis zwölf Stunden schwerster Schinderei wieder hinunter, hatten die gleichen wunderschönen Bilder der meist schneebedeckten Bergspitzen rundum vor Augen wie ich, wenn sie einmal den Kopf hoben und drehten. Falls sie körperlich und seelisch noch die Kraft hatten, die Gipfel der Berge zu betrachten, diese Symbole von Freiheit und Weite. Und eine Vorgängerin der Amsel, die ich in dem Baum über mir singen höre, könnte ihnen das Lied gesungen haben, das Lied von dem unsäglichen Leid, das Menschen Menschen antun und das kein Tier seinen Artgenossen antun würde.
Kaum mehr als ein größeres Straßendorf ist der Ort Rottenmann. Er liegt an einer besonders wichtigen alten Salzhandelsstraße, die vorher schon eine stark frequentierte Römerstraße war. Zu sehen ist eine weitgehend erhaltene Stadtmauer mit einem romantisch anmutenden Wohnturm. In halbhoher Lage über dem Ort da und dort ein Schloss. Aber nirgendwo ein Hinweis auf den deutschen Industriellen und Milliardär Friedrich Flick (1883-1972), der in Rottenmann einen Wohnsitz hatte und sehr umstritten war, weil auch in seinen kriegswichtigen Fabriken Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ausgebeutet wurden.
Dann endlich Bad Aussee. Enge Gassen, Schülerlotsinnen, Kirchen. Dazu Wohnhäuser, die bis in Kniehöhe mit Brettern verkleidet sind. Schutz vor dem Schneewasser mit Streusalz, das die Autos gegen die Häuser spritzen und das die Mauern zerfrisst. Im Bereich des Kurzentrums, wo sich die Altausseer Traun und die Grundlseer Traun zusammentun, gibt es eine Fußgängerbrücke in Form eines Mercedesstern. Das passt. Hatte doch schon Zell am See mit seinem Ferry Porsche Congress Center damit begonnen, uns auf Heimat einzustimmen: Deutschland – Autoland.
Gerade noch das prächtige Stadthaus bestaunen, das Josef Fröhlich einst bewohnt hat. Einer der berühmtesten Söhne der Stadt, weil er in Sachsen als Taschenspieler und Hofnarr am Hofe August des Starken Karriere gemacht hat. Hoch über der Stadt der Loser, der Hausberg von Bad Aussee. Die schneeweißen Felsen oberhalb der Baumgrenze meist in Wolkenwatte eingepackt. Als ob der Himmel den Schnee für so empfindlich hielte, dass er ihn schützen müsste.