Gotlandica (2000)

Visby, den 1. Mai 2000. Die Flaggen haben mich früh aus dem Bett geschüttelt. Mit ihrem hartnäckigen Windpeitschen. Am Fenster dann habe ich ihm meine Reverenz erwiesen, dem königsblauen Tuch mit dem gelben Kreuz. Von jedem Turm der alten Stadtmauer – und da waren viele Türme – winkte es mir zu, hoheitsvoll, Achtung gebietend. Dazu die morgennackte Sonne, so schamlos. Da war ich schnell draußen. Gleich durchs nächste Stadttor entwischt ins grüne Vorland – freies Schussgelände – und schon bald wieder zurück, wieder im Haus, hinterm Fenster. So kalt war der Sonnenwind. Es ist hat nicht alles Heizung, was brennt. Auf der Insel Gotland muss der Festländer schnell umlernen.

In der Altstadt stehen die Kirchenruinen herum wie versteinerte Elefanten. Lauter Einzelgänger, graurunzelig riesig geben sie Windschutz. Deshalb wohl dürfen sie bleiben. Wenn auch tot und bereits ausgenommen und vom großen Jäger Zeit schon weitgehend zerlegt. Auf dicken Säulenbeinen stehen die Kadaver da, unerschütterlich, und ihre hohen Rippenbögen wie die augenlosen Köpfe trotzen mit ungebeugtem Stolz dem Himmel. Fast ein Dutzend dieser Urtiere, dieser Kolosse, die auf die putzigbunten Häuschen der Visbyer hinabschauen. Aber starr stillhalten, als hätten sie Angst, den Leuten mit den zu kleinen Behausungen und den zu großen Volvos ihr Miniglück zu zertrampeln. Vor allem die bunten Figürchen, die innen auf den Fensterbänken stehen, nicht um hinauszugucken, sondern damit sie die Blicke der Passanten anlocken. Um ihnen die idyllische Wohnsituation zu präsentieren, den Wettbewerb von Ordnung und Sauberkeit.

Die Visbyer sind Leute, die schon viel verloren haben. Damals, in der Zeit der Reformation, als all die stolzen Kirchen und Klöster der Stadt auf einen Schlag fehl am Platze waren. Da zeigten sie kein bisschen Interesse an dem besonderen Baustil, an der karolingischen Seltenheit, der byzantinischen Einmaligkeit, dem merkwürdigen Zusammenspiel von St. John und St. Peter. Alles nichts, deshalb alles dem Verfall überlassen. Und sogar als Steinbruch genutzt. Die Leute waren schon damals so klein wie ihre Häuschen, die sich von der Straße aus in die Dachrinnen greifen lassen. Und so klein auch waren ihre Bedürfnisse. Schlechte Zeiten für Elefanten.

Sonnenglast, dass man die Jacke im Zimmer lässt, sorglos hinausstürmt, das Hemd öffnet und den Mund, den Sommervorgeschmack zu kosten bemüht. Doch plötzlich wehen Nebelwellen durch den Wallgraben, durch die engen Gassen, um die Häuschen. Überall nur Nebel. Als wollten die Wolken das Städtchen zu Fuß erkunden. Wie sie mit ihren hellen Schleiern so rücksichtslos über Mauern und Gras wischen, über die roten Ziegeldächer, die sich erschrocken noch  tiefer niederducken, so dass alle Farben blass werden. Da blickst du hilfesuchend zum Himmel hinauf und haderst mit deiner Erinnerung, die dir sagt: Da war doch gerade noch dieses Überallblau. Nun ist es weg, vorbei. Schemenhaft winken ferne Bäume dir zu. Wie dürre Hexenbesen. Und sie raunen dir zu: Sei ganz ruhig, wir kommen schon bald zurück. Und diesem Überfallnebel, den du einatmest, ausatmest, dem kannst du einen Gruß mitgeben: für die auf hoher See, die ihn gleich durch ihre Lungen wehen lassen werden. Das Leben auf der Insel verbindet mit all dem insellosen Leben da draußen.

Schwierig der Kontakt mit den Einheimischen. Für sie sind Touristen bloß ein notwendiges Übel. Also muss Beobachtung weitgehend den Dialog ersetzen. Bei McDonald’s bin ich von den jüngsten Gotländern umringt, die sich lautstark auf den American way of life begeben haben. Geduldig umsorgt von amerikanisch gigantischen Muttertieren, die viel zu viel Platz brauchen, den knappen Platz der kleinen Insel. In der Ecke eine moderne Madonna, Typ Maria lactans. Mit der Milchschachtel in der Hand, den bunten Kunststoffstrohhalm im Mund stillt sie das Kind an der Brust. Im Botanischen Garten dagegen sind es die ältesten Gotländer, die meine Blicken weiten. Nein, nicht die paar alten Leutchen beim Sonnentanken auf den Parkbänken, geschenkt, sondern die Uralt-Bäume, die Riesen mit den bizarr verknorpelten Stämmen, mit den in kruden Kämpfen erstarrten Vielarmen. Ohne jede Reaktion nehmen sie meinen ehrfürchtigen Gruß entgegen. So abgeklärt, so herrlich erhaben über den Alltag, dass ich mich frage: Warum sind es nur bei den Bäumen die Alten, die mir soviel mehr imponieren als die Jungen?

Ihr Wahnsinnstulpen an der Kyrktrappan, ja, sagt mal: Schämt ihr euch denn gar nicht? Wie kann man sich so hemmungslos zeigen, so weit aufgerissen seine Geschlechtswerkzeuge den Blicken der Vorübergehenden preisgeben, sich bis in den letzten Winkel seiner intimsten Funktionen entblößen? Touristengleich. Im flammenden Rot eurer sechs Riesenkelchblätter tut ihr so, als ob ihr euch schämtet. Dabei schreit das Rot: Schaut her, schaut her, wir verstecken nichts! Nein, das tut ihr wahrhaftig nicht. Ihr versteckt nicht einmal das schwarze Geheimnis, das gelbe und das violette , das mich peinlich berührt. Das ist mein Problem, zugegeben. Es nützt halt nichts, dass man sich von den Kirchen fernhält, solange man ihre Lebenslüge nicht radikal aus seinem Bewusstsein getilgt hat. Das nächste Mal, versprochen, das nächste Mal werde ich euch Wahnsinnstulpen im Vorbeigehen zurufen: Ihr seid schön, meine Freundinnen!

Ich stehe am Strand. Tag für Tag lasse ich den Blick über die Wasserweite gleiten wie der herrliche Dulder Odysseus auf der Insel Nausikaa. Und sehe kein einziges Schiff, nicht das kleinste Segel, nicht den fernsten Rauch. Sehe nichts als Himmel und Meer, die zwei, die in unbeteiligtem Gleichmut wetteifern. Welch ein Kontrast zu den Bildern daheim, den Rheinauen und dem nie abreißenden Schiffegleiten hin und her, wie es sich mir hinter die Augen schiebt.

Ein Picknick-Ausflug. Fahren, fahren, fahren, dabei wäre ein Platz so gut zum sich ins Gras Werfen wie der andere. Selten mal so was wie ein Dorf, nur einzelne Gehöfte über das Land gestreut. Runenschrift an einer Scheune. Da hat einer die Vergangenheit als Ernte eingefahren. Freudig begrüßt: Fasane, die in der Sonne dösen. Plötzlich eine Irritation: Strauße, die hinter hohem Zaun daherhoppeln. Ja, wo sind wir denn nun hingefahren? Egal, weiter. Da und dort eine Landkirche. Alle gleich. Wie Giraffen stehen sie da. Der hohe Turm, der viel niedrigere kurze Rücken, daran ein noch niedrigeres Hinterteil. Doch auf einmal ist das Ziel der planlosen Suche nach dem richtigen Platz eine Bucht ohne Namen, mit viel Grün um uns herum, mit einer alten Windmühle, die feiertäglich die Hände in den Schoß gelegt hat, und einem winzigen Fischerboot, das weit draußen vor Anker liegt.

Ein paar Fischerhütten in der Nähe. Und auf dem Wasser viele Schwäne, die in träger Sturheit immer wieder voller Vertrauen in die Ergiebigkeit des Wassers ihre langen Hälse eintunken. Ein Bild voller Gartenlaubenromantik, wären da nicht die Düsenjäger, die im Blinzelblau ihre Flugstunden absolvieren. Fernes Donnergrollen von kühnen Schallmauerdurchbrüchen. Die Herren halten sich fit, während wir auf unseren Decken hocken, ausgehungert die mitgebrachten Vorräte vertilgen und steif werden vor lauter naturnaher Gemütlichkeit.

Wanderer, tritt behutsam auf, wenn du auf Gotland aus dem Wagen, Flugzeug, Schiff kletterst. Du bis dabei, über Leichen zu gehen, über die Reste ungezählter Generationen von Gotländern, die in der nur dünnen Erdschicht dieser Insel ihre Ruhe gesucht haben. Gefunden wie gesucht, was blieb ihnen auch anderes übrig. Doch ja, auf das bronzezeitliche Hügelgrab darfst du klettern. Auf die abertausend aus dem Wasser aufgelesenen Steine, die Menschen aufgehäuft haben, um dem verehrten Toten ein würdiges Grabmal zu gestalten und es Räubern unmöglich zu machen, ihn zu stören. Du darfst davon ausgehen, dass dieses Grab schon vor Jahrhunderten geplündert wurde. Schon viel zu lange nichts mehr mit Totenruhe. Hier, wo die Insulaner sich durch lange Zeiten mit dem Aufstellen falscher Lichter und dem Ausrauben der Gestrandeten über Wasser zu halten wussten, hier war ein Hügelgrab nicht mehr als eine Fundgrube. Das Leben war hart, selbst der Tod fiel ihm zum Opfer.

Doch über die weichen Graspolster der Friedhöfe darfst du spazieren. Um beinahe hundert alte Landkirchen herum. Und darfst zwischen Grabsteinen lustwandeln. Was ist das Leben denn anderes. Du darfst voller Neugier diese steinernen Visitenkarten lesen, die wie Findlinge im grünen Weichen stecken und Namen tragen, die dir bekannt vorkommen. Es sind halt immer die gleichen, die sterben. Manchen hat eine liebevolle Hand ein paar Blumen als Begleiter gegeben. Als ob der Stein durch das wild entschlossene Blühen dazu gebracht werden könnte, etwas von seiner definitiven Schwere, seiner unmenschlichen Härte zurückzunehmen. Nur sehr selten findest du ein Grab, wie du es von daheim gewöhnt bist – falls man sich überhaupt an Gräber gewöhnen kann. Die abgetrennte Parzelle, mit Steinen und Büschen oder Zäunchen drumherum. Grund und Boden als grundbuchverbriefte Sicherheit für die Ewigkeit, hier passt sie nicht hin. Denn wo der Immerzuwind die Menschen so heftig wegzerrt, da fehlen allzu bald die treusorgenden Nachkommen der in den Familiengäbern Ruhenden. So dass ein ganz neuer Begräbnisritus nötig wurde, liebevoll gespitzten Mundes Minneslunde genannt. Auf einem von Bänken und Blumenrabatten gebildeten großen Rasenrund hinter der Kirche streuen die Hinterbliebenen die Asche ihres Verstorbenen aus – eine Trauerversammlung auf sowas wie einer Thingstätte der Toten – , ehe sie entschlossen ihre Augen trocknen und wieder in ihre Autos steigen, in die Flugzeuge oder sich einschiffen, um in einer fernen neuen Welt zu verschwinden.  

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