Gábor Görgey: Sirene der Adria

Sing mir das Lied vom Tod

(Gábor Görgey: Sirene der Adria, Roman, mit einem Vorwort von Imre Kertész, aus dem Ungarischen von Jörg Buschmann, Salon Literaturverlag, München 2004, 240 Seiten, gebunden, 19,80 €, ISBN 3-9809635-0-0)

Der Nobelpreisträger Imre Kertész hat es auf den Punkt gebracht mit seiner bewundernden Aussage: „Görgey erzählt das schönste Märchen über den Tod, das ich je gelesen habe.“ Dabei wollte Görgey, wie er selbst in einer Vorbemerkung gesteht, ganz anderes schreiben, nämlich „die Chronik jener Leidensgeschichte, die den Zeitraum von den Dreißiger Jahren bis zur Jahrtausendwende umfaßt.“

Das Buch ist beides geworden. Und noch einiges darüber hinaus, nämlich Dalmatien-Reisebericht und Familienroman und Liebesgeschichte und auch ein Exempel für das Scheitern einer großen Freundschaft, daneben vermutlich weitgehend eine Autobiographie.

Der 1929 geborene Autor entstammt einer angesehenen alten Patrizierfamilie aus Budapest, wo er die glückliche Zeit einer wohlbehüteten Kindheit erlebt. Kaum hat die sowjetische Zwangsherrschaft die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und Pfeilkreuzler abgelöst und Gábor Görgey ein Studium der Germanistik begonnen, da wird er mit der gesamten Familie aus Budapest deportiert. Als Angehörige der alten Oberschicht sind die Görgeys für die Kommunisten nicht mehr tragbar. Erst 1954 kehrt der Autor an die Universität zurück, wo er ein Studium der Theologie beginnt, das er aber dann gegen die Arbeit als Journalist und Theaterleiter eintauscht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetherrschaft im gesamten Ostblock wird der Dreiundsiebzigjährige Minister für Kultur der Republik Ungarn. Er ist im selben Alter wie Konrad Adenauer, als dieser Bundeskanzler wurde. Doch hielt ihn die politische Arbeit nur von 2002-2003 von seiner wichtigeren Tätigkeit als Stückeschreiber und Romancier ab. Dieser Tatsache verdanken wir den so aufschlußreichen wie ergreifenden Bericht über den größten Teil des 20. Jahrhunderts, die „Sirene der Adria“.

Den Journalisten und Politiker merkt man seinem Buch genauso an wie den vielfach preisgekrönten Dichter. Aus diesem dreifachen Blickwinkel resultiert das erregende Changieren des Textes. Denn mal sind es Alltagsbeobachtungen, mal generelle Feststellungen, die das Märchen aus der Tiefe der Adria an die Oberfläche der Gesellschaftskritik hieven. Doch immer wieder versteht es der Autor, mit Schlüsselbegriffen wie Atlantis, Sirene, Engel mit Sternenaugen oder große Amme das Alltägliche ins Allgemeine und Ewige umzuformen. Damit präsentieren sich dem Leser so unterschiedliche Dinge wie eine sehr persönliche Geldtheorie oder die rostrote Erinnerung an die gescheiterte Kolchoswirtschaft, Sexszenen von behutsamer Überdeutlichkeit, eine Kritik des angeblich so erfolgreichen Gulaschkommunismus, die grandiose Verurteilung der Yuppies, aber auch Nekrophiles oder die sinnlose Frage nach dem Sinn des Lebens.

Gábor Görgey erweist sich als ein Märchenerzähler, der mit der feinen Kultiviertheit einer untergegangenen Epoche spricht, seine Erzählung aber mit Gesten seiner von Zwangsarbeit und Brotarbeit schwielig gewordenen Hände unterstreicht. Was sein Märchen um so glaubhafter werden läßt – und um so eindrucksvoller.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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