Eduard von Keyserling: Wellen

Von einem Blinden gemalt

(Eduard von Keyserling: Wellen, Roman, Aufbau Tb, 174 Seiten, Berlin 2005, Euro 7,50)

Vor ziemlich genau hundert Jahren geschrieben und doch so gültig und aktuell, als wäre er von heute. Ein kleiner erfreulich impressionistischer Roman voller Weitegefühl, Sehnsucht, Verliebtheit, Arroganz, Boshaftigkeit und Abenteuerlust. Das alles kann man gut nachfühlen. Ein Leben der Untätigkeit in salzhaltiger Luft und Meeresduft und mit dem Blick auf die ewig ruhelosen Wellen der Ostsee. Man liest es mit Begeisterung, auch wenn man sich klargemacht hat, dass dieser Roman in zwei wesentlichen Aspekten einer längst vergangenen Zeit angehört.

Der eine Retro-Aspekt ist das Personal. Eduard Graf von Keyserling (1855-1918) lässt in einem Fischernest auf der Kurischen Nehrung Adelsvolk mit Fischervolk zusammentreffen. Die Welt des versinkenden baltischen Adels war sein Leib- und Magenthema. Die einen sind die blasierten Sommergäste, die anderen ihre devot fürsorglichen Zimmervermieter und somit fast nur Staffage. Was noch dem traditionellen Bild des Zusammenlebens von Herrschenden und Dienenden entspricht und wegen der Schafsgeduld der kleinen Leute im allgemeinen problemlos ist. Hier allerdings nicht. Obwohl der Ausgangspunkt so vielversprechend ist: Die selbstbewusste und resolute Witwe eines adligen Generals versammelt ihre Familie in der Sommerfrische um sich, Kinder und Enkel samt Partnern.

In diesem Sommer wird die gutgemeinte Gemeinsamkeit zum Problemfall durch das Paar, das besonders gern und lange Arm in Arm am Strand entlang spaziert: Der junge Kunstmaler Hans Brill und die ungewöhnlich schöne Gräfin Doralice, die ihrem Mann davongelaufen ist. Zwei so unterschiedliche Menschen als Liebespaar vereint, diese Konstellation ist für die Feriengesellschaft zu ungewöhnlich und wird deshalb von den einen nur als degoutant angesehen, von den anderen als verachtenswert, von einigen aber auch als eine Herausforderung und von den jungen Mädchen als besonders reizvoll, auf- und anregend. In den unterschiedlichen Reaktionen zeigt sich die durchgehende Diagnose: Eine Melange von Lebensgier und Lebensunfähigkeit beherrscht die vornehmen Sommerfrischler.

Was war denn so Erstaunliches passiert? Ein alternder Graf und ehemaliger Gesandter von stocksteifer Parkettsicherheit hatte einen jungen Maler, kleiner Landleute Sohn, den er wegen seines offensichtlichen Talents förderte, auf sein Schloss eingeladen, damit er dort seine viel jüngere Frau male. Die langen Sitzungen in einem Eckzimmer des Schlosses ließen zwei Menschen, die verschiedenen Welten angehörten, sich näher kommen und sich so füreinander begeistern, dass die junge Gräfin ihrem alten Grafen schließlich in vollendeter Form erklärte, ihn verlassen zu wollen, und dass der alte Graf sie in ebenso vollendeter Form und ohne jede Überraschtheit ziehen ließ.

Die beiden Lager, die am Strand aufeinander prallen, die adlige und die kleinbürgerliche Gesellschaft, verbindet auf ihre Weise eine Außenseiterfigur. Das ist der verkrüppelte und pensionierte Geheimrat Knospelius, der seinen Lebensabend an der Küste verbringen will. Ein Sonderling mit analytischem Gespür und sarkastisch verständnisvoller Ausdrucksgabe, ganz offensichtlich das Alter Ego des Autors, der selbst aufgrund einer Syphilisinfektion seit seinem 45. Lebensjahr nur noch wie ein Krüppel wirkte und zudem seit 1908 völlig erblindet war.

Zugegeben, diese Standesgrenzen erschütternde kleine Familienkatastrophe auf der Kurischen Nehrung wäre heute nur noch für Heftchenliteratur brauchbar. Transformiert man aber die Vertreter des Geburtsadels in Vertreter des modernen Geldadels, ist diese Konstellation durchaus wieder glaubhaft und ansprechend. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf lässt sich der betagte Roman auch heute mit Genuss lesen.

Und das liegt vor allem an dem anderen Aspekt, der auf eine längst vergangene Zeit hinweist. Gemeint ist die Sprache dieses kleinen Romans. Nicht die moderne Geschwätzigkeit, diese so bemüht Seiten füllende Belanglosigkeit im Ausdruck, aber auch nicht die Anleihen, die heutzutage so gern beim Jargon und bei der Fäkaliensprache genommen werden. Das alles hatte Keyserling nicht nötig. Er präsentiert noch Einfälle, die überraschen, so wenn er mit zwei Sätzen das Meer schildert. „ … undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt. Und ein Rauschen kam herüber, eintönig, wie von einem schläfrigen Taktstock geleitet.“ Derart schöne und ungewöhnliche Bilder bringt Keyserling auf jeder Seite.

Dass es in Keyserlings Erzählung heftig psychologisiert, das ist nicht die besondere Art dieses Autors, das ist der Zeitstil. Schon eher eigenartig ist, wie Keyserling auf die starr formalistische Scheidung nach den Blickwinkeln verzichtet, aus denen heraus etwas gesehen wird. Der Autor geht souverän als Allwissender über solche Arbeitsanweisungen hinweg und lässt in einem fröhlichen Spiel der Perspektiven jede Figur zu Wort kommen, wann ihr gerade danach ist, und fällt ihr ins Wort, wenn ihm danach ist. Dabei lässt er die Typen selbstverständlich auch durch ihre spezielle Wortwahl und Diktion deutlich werden. Keyserlings Ausdrucksweise ist so feinfühlig und farbig und plastisch, dass man versucht ist, jeden Satz zweimal zu lesen. So wird ein kleiner Roman zu einem großen Leseerlebnis.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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